Kultur

Drei Gesichter der Vertreibung

von ohne Autor · 20. Mai 2011
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Die neuesten Schlagzeilen um die umstrittene Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach zeigen: Auch 66 Jahre nach Kriegsende überschattet die Vergangenheit die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland, zumindest auf offizieller Ebene. Wesentlich unbefangener begegnen sich Jugendliche und Studenten beiderseits der Oder. Dass auch zwischen älteren Semestern ein unverkrampftes Miteinander möglich ist, ohne die Geschichte zu vergessen, zeigt der Film von Karin Kaper und Dirk Szuszies.

Gesichter der Vertreibung

Er erzählt von den vielen Gesichtern der Vertreibung vor und nach 1945. Die Fakten sind bekannt: Mehr als 16 Millionen Deutsche verloren nach Kriegsende ihre Heimat in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie sowie in Ost- und Südosteuropa. Fast zwei Millionen starben auf der Flucht. Bereits ab 1940 deportierten die Sowjets große Teile der polnischen Bevölkerung aus dem Osten des eroberten Landes nach Sibirien. Rund 1,2 Millionen Polen wurden später Richtung Westen "umgesiedelt".

In einem Ortsteil der niederschlesischen Gemeinde Platerówka verdichtet sich diese Geschichte in zwei Familienschicksalen. Als 16-Jährige wurde Edwarda Zukowscy mit ihrer Familie aus Ostpolen zur Zwangsarbeit in die UdSSR verschleppt. Nach einer Odyssee bis nach Kirgisistan erreicht sie 1945 als Soldatin der Roten Armee Nieder Linde, das heutige Zalipie. Mit ihrem Vater übernimmt sie jenen Bauernhof, der bis dahin der Familie Queisser, den Großeltern Karin Kapers, gehörte. Ein Jahr lang arrangiert man sich unter einem Dach. Dann heißt es Abschied nehmen. Mühevoll bauen sich die Queissers bei Bremen ein neues Leben auf.

Exzesse ohne Kommentar

64 Jahre später reist Karin Kaper, Jahrgang 1959, mit ihrer Mutter und der Tante erneut zurück nach Zalipie. Dort treffen sie auf Edwarda Zukowscy und deren Tochter, Enkeltochter und Urenkel. Zunächst begleitet die Regisseurin die Suche der Verwandten nach Kindheitsspuren. Doch mit der Zeit tritt die von beiden Familien erlittene Vertreibung in den Vordergrund. Unkommentiert berichten die Zeitzeuginnen von endlosen Reisen in Viehwaggons, Gewaltexzessen und dem schwierigen Neuanfang in zwei gegensätzlichen Systemen. Verwackelte Super-8-Aufnahmen erwecken erinnerte Situationen in symbolhaften Szenen zu neuem Leben.

Immer wieder werden die Gesprächspassagen der Seniorinnen gegeneinander geschnitten. Durch diese doppelte Perspektive ergibt sich ein erweiterter, wenn auch subjektiver Blick auf eine Erfahrungswelt, ohne das Leid der einen Seite mit dem der anderen aufzurechnen.

Eine weitere, fast schon über diesen Dingen stehende Ebene ergibt sich, wenn Edwarda Zukowscys Enkelin ihre deutsch-polnischen Erfahrungen umschreibt. Die Genugtuung über die unvoreingenommenen Beziehungen, die beide Familien seit den 70er-Jahren pflegen, stärkt ihren Glauben an die Kraft der Toleranz gegenüber ideologischer Verblendung.

Erkenntnis frei von Effekten

An den Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg haben sich schon einige Filmemacher versucht. Vor wenigen Jahren thematisierte der WDR-Dreiteiler "Als die Deutschen weg waren" die "doppelte Geschichte" vieler Orte in Polen, Tschechien und Russland. Dennoch überrascht "Aber das Leben geht weiter" mit eigenen Akzenten.

Zwar sorgt die Bildsprache, die sich vor allem auf jene Orte und Menschen verlässt, die die Protagonistinnen unmittelbar prägten, zunächst für eine etwas träge Atmosphäre, noch verstärkt durch den spröden, recht ungelenken Duktus der Besucherinnen aus Norddeutschland. Doch mit der Zeit entsteht ein angenehmer Kontrast zum Feuerwerk aus vorstoßenden Panzern und Diktatoren-Auftritten, das in anderen Dokumentationen zur Zeitgeschichte gerne bemüht wird. Gibt es vor diesem historischen Hintergrund ein stärkeres Bild als jenes von drei älteren Damen, die sich unterhaken und gemeinsam durch den altvertrauten Obstgarten schlendern?

Distanz und Nähe

Ebenso hat die Regisseurin den Spagat gemeistert, die nötige Distanz gegenüber der eigenen Familie zu wahren, ohne Empathie für die Befragten vermissen zu lassen. Ohne jede Einseitigkeit oder inszenierte Emotionalität macht dieser sehr persönliche Blick das Phänomen Vertreibung erlebbar. Damit umschifft er geschickt die Klippen des gegenwärtigen "Opferdiskurses", der sich besonders dem Leid der Deutschen im Zweiten Weltkrieg widmet.

Die unaufgeregte Ästhetik dieses Films kehrt dessen eigentliche Botschaft umso deutlicher hervor: Dass man nur gewinnen kann, wenn man sich seiner Vergangenheit stellt.

Info:
Aber das Leben geht weiter (Deutschland 2010). Regie: Karin Kaper/ Dirk Szuszies, 104 Minuten, Sprachen: Deutsch/ Polnisch (Untertitel). www.karinkaper.com Kinostart: 19. Mai

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