Kultur

Die zweite Mauer

Zum Jahrestag des Mauerfalls ist die Erzählung vom kollektiven Freiheitswillen allgegenwärtig, der ein marodes System hinwegfegt. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass traumatische Diktatur-Erfahrungen länger währten als die DDR. Das gilt nicht zuletzt für die Hinterbliebenen der Mauertoten. Der Dokumentarfilm „Die Familie“ thematisiert deren Leiden.
von ohne Autor · 7. November 2014
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Wie trauert man um einen Menschen, der Jahrzehnte nach Erich Honeckers Abgang offiziell noch immer kein Grab hat? Über dessen Schicksal buchstäblich Gras zu wachsen droht? Irmgard Bittner steht auf dem Parkplatz einer Fastfood-Kette im Berliner Norden. Dort verlief einst die Grenze zwischen West-Berlin und der DDR. Sie blickt auf eine Gedenkstele, die an ihren Sohn erinnert. Michael Bittner wurde am 24. November 1986 bei dem Versuch erschossen, die Sperranlagen zu überwinden. Doch das erfuhr seine Mutter, die keinen Abschied von ihrem Sohn nehmen konnte, erst viele Jahre später. Wohin seine Urne nach der Einäscherung verschwand, ist nicht bekannt.

Michael Bittner ist einer von mindestens 138 Menschen, die an der Berliner Mauer umkamen. Sein Tod ist nicht der Einzige, der nach wie vor viele Fragen aufwirft. Zu DDR-Zeiten galt für die Opfer des Grenzregimes strengste Geheimhaltung. Dabei legte die Stasi mit perfider Gründlichkeit falsche Fährten, sodass die Angehörigen häufig erst in den 90er-Jahren erahnten, was wirklich passiert ist.

Mauer des Schweigens

Die offizielle Mauer des Schweigens ist nicht zuletzt Ausdruck jener Unfreiheit, der Michael Bittner und viele andere entkommen wollten und die ihre Angehörigen verschärft durchleben mussten. Der Film konzentriert sich nicht auf die Erfahrung, einen geliebten Menschen zu verlieren, sondern durchleuchtet die Traumata als Teil des Systems.

Das nur sieben von 138 Opferfamilien bereit waren, vor der Kamera Zeugnis abzulegen, verdeutlicht die Schwere dieser Erfahrungen. Vor diesem Hintergrund sind ihre Erzählungen, die den roten Faden des Films bilden, umso bedrückender. Weinert lässt die Geschichten ohne Nachfragen für sich stehen. Kommentierungen von Historikern gibt es ebenfalls nicht. Einzig in einer längeren Sequenz ordnet der frühere Berliner Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz das Geschehen ein. In den 90er-Jahren war er in die Prozesse gegen Erich Honecker und Egon Krenz involviert. Der Jurist macht deutlich, was Irmgard Bittner und viele andere Angehörige der Erschossenen oder Ertrunkenen zusätzlich plagt – das Gefühl, auch in der Bundesrepublik Deutschland keine Gerechtigkeit zu erfahren.

Schonungslos und behutsam

„Zwei Jahre auf Bewährung. Für einen Todesschützen. Das ist doch was.“ Irmgard Bittners immer wieder aufblitzende Lakonie ist beeindruckend und erschütternd zugleich. Bis zum Schluss hatten die DDR-Behörden behauptet, ihr Sohn sei sicher in den Westen ausgereist. Wie auch bei den Hinterbliebenen dreier weiterer Opfer konfrontiert Weinert den Zuschauer gleichsam schonungslos und behutsam mit den traumatischen Erfahrungen. Schonungslos, weil er in fast unerträglich langen Großaufnahmen die Kamera mitten auf die Gesichter fokussiert und dadurch spüren lässt, wie es im Inneren arbeitet.

Behutsam, weil er die Menschen dabei begleitet, die Wahrheit über die Todesfälle zu suchen oder mit dem Erlebten fertig zu werden, anstatt sie auszustellen. Mit der Witwe Elke Liebeke reisen wir ins frühere Grenzgebiet zwischen Potsdam und Berlin-Spandau. Am 3. September 1985 war ihr Mann Rainer bei dem Versuch ertrunken, den Sacrower See zu durchschwimmen. Dessen Gefährte erreichte das rettende Ufer, aber schweigt bis heute zur Flucht übers Wasser. Also fragt sie sich während ihrer späten, aber befreienden Visite bei Anwohnern durch.

Zur Verbrecherin gestempelt

In nüchternen wie subtilen Erinnerungsberichten macht Elke Liebeke die menschlichen Enttäuschungen und die Schikane anschaulich, die sie als Frau eines Republikflüchtlings damals erdulden musste. Ihre Schwägerin kann bis heute nicht verarbeiten, dass sich für den Tod des Bruders niemand vor Gericht verantworten musste. Klärungsbedarf gibt es nicht nur in diesem Fall: Vor zwei Jahren wurde ein Forschungsauftrag erteilt, um das Schicksal aller Toten an der deutsch-deutschen Grenze aufzuarbeiten.

Auch Heiko Kliem lernen wir während einer wichtigen Erkenntnisphase kennen. Am 3. November 1970 wurde sein Vater vom Dauerfeuer einer Kalaschnikow durchsiebt, weil er – ohne jeden Plan abzuhauen – mit seinem Bruder auf dem Motorrad zu dicht an die Grenzanlagen gelangt war und offenbar einen Warnruf überhört hatte. Das erfuhr der Sohn allerdings erst 1997 von der Kriminalpolizei. Nun will er reinen Tisch machen und einen früheren Grenzsoldaten zur Rede stellen.

Dieser ästhetisch wie dramaturgisch gelungene Film gehört fast ausschließlich den Opfern. Anstatt auf Didaktik oder Moral zu setzen, bleibt es dem Zuschauer überlassen, wie er mit der überwältigenden Unmittelbarkeit umgeht. Ein wichtiger Beitrag zu einem Thema, das noch viele offene Wunden und Fragen birgt.

Info:

Die Familie (Deutschland 2013), ein Film von Stefan Weinert, 93 Minuten.

Ab sofort im Kino

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