Kultur

Die Wende in Briefen

von Dagmar Günther · 20. August 2007

Die Geschichte des Protagonisten Enrico Türmers kommt in der heute recht ungewöhnlichen Form des Briefromans daher. Auch der fiktive Herausgeber fehlt dabei natürlich nicht. Dieser macht sich daran, den Nachlass - ein umfangreiches Konvolut aus Briefen und Aufzeichnungen - des verschwundenen Enrico Türmer zu sichten und anschließend zu veröffentlichen.

Es handelt sich hauptsächlich um Briefe, die Türmer Anfang 1990 an eine handvoll Leute schrieb. Der Inhalt unterscheidet sich je nach Adressat. In den Briefen an seine Schwester Vera beispielsweise erhellt sich dem Leser die komplizierte Familiensituation. In den langen Schreiben an Nicoletta, eine unerreichbare Geliebte, legt Türmer eine Beichte über seine Kindheit, Jugend und die Zeit als Soldat bei der NVA. Und seinem Jugendfreund Johann teilt er das gegenwärtige Geschehen in dieser Umbruchszeit mit.

Geld regiert die Welt

Im Grunde genommen ist die Geschichte von Enrico Türmer, die eines nach der Wende desillusionierten Menschen. Nach dem Mauerfall verlässt er seine alte Arbeitsstätte, das Theater, und begründet das Altenburger Wochenblatt mit.

Am Anfang ist Türmer noch von Idealen getrieben. Er träumt von mehr Demokratie und dem Aufdecken von Skandalen in der Region. Schon bald muss er feststellen, dass sich die Menschen aber kaum für diese Themen interessieren, weil jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Ein Streit in der Redaktion über Finanzierung und Werbeanzeigen stellt offen zur Schau, wie ahnungslos alle Beteiligten sind, was das neue "kapitalistische" System betrifft.

Im richtigen Augenblick taucht Baron Clemens von Barrista auf - eine auffällige Gestalt, die in ihrer Beschreibung stark an Mephisto erinnert. Wie es nicht anders sein kann, nimmt Barrista Türmer an die Hand und wird dessen Mentor. Er weiht seinen "Schützling" in die Geheimnisse des schnellen Geldes ein und wie man es auf schnellstem Wege verdienen kann. Sehr bald passt sich Türmer den neuen Geflogenheiten an. Schließlich macht er sich mit einem Anzeigenblatt selbstständig.

Inmitten der turbulenten Ereignissen zwischen Wende und Wiedervereinigung blättert der Roman die Lebensgeschichte Türmers auf. Fast entwickelt sich hier eine heimliche Künstlerbiographie. Es stellt sich nämlich heraus, dass der junge Türmer schon als Kind den Wunsch hegt, einmal Schriftsteller zu werden. Damit aber nicht genug: Er träumt davon, später etwas "Staatsfeindliches" zu schreiben, es im Westen zu veröffentlichen, um anschließend als Dissident aus der DDR ausgewiesen zu werden. Aber Türmers Traum vom Schriftstellerdasein endet jäh 1989 und er wird Unternehmer.



Ein großer Wenderoman?


Schulze behandelt in Neue Leben ein Thema, das nach wie vor aktuell ist. Bestimmt nicht ohne Grund ähnelt die Biographie seiner Hauptfigur der eigenen. Vielleicht, weil nicht nur eine historische Begebenheit aufgegriffen wird, sondern darin auch die ambivalenten Vorstellungen und Träume von Ost und West zu dieser Zeit widergespiegelt werden.

Neue Leben als den großen Wenderoman zu lesen, wäre übereilt. Groß in seinem Umfang ist das Buch allemal. Aber leider ist es an vielen Stellen mit überflüssigen Details überfrachtet. Der schleppende Erzählton wirkt mitunter ermüdend. Wer jedoch einmal mit dem Lesen begonnen hat, möchte natürlich wissen, wie es mit Enrico Türmer weiter geht.

Nach fast siebenjähriger Entstehungsphase erschien Ingo Schulzes großangelegter Roman Neue Leben bereits 2005 als Originalausgabe im Berlin Verlag. Mit seinem Bestseller Simple Storys hatte er schon 1998 ein breites Lesepublikum erfreut und zählte fortan zu den wichtigsten Autoren unserer Gegenwartsliteratur. Zudem erhielt er auch zahlreiche Auszeichnungen für seine literarische Arbeit.



Edda Neumann


Ingo Schulze: Neue Leben, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007, 9,90 Euro, 789 Seiten, ISBN-13: 978-3423135788

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare