Im Roten Salon der Berliner Volksbühne wird diskutiert. "Geschlossene Gesellschaft" heißt die regelmäßige Veranstaltungsreihe. Kommen dürfen Freunde. Und Freund kann jeder werden, der sich in den entsprechenden Newsletter einträgt. Wer sich nicht als Freund ausweisen kann, wird auch nicht heimgeschickt, sondern spontan eingemeindet und bekommt zur Begrüßung ein Bier in die Hand gedrückt. Heimat ist auch das Thema der März-Ausgabe.
Auf den roten Sofas sitzen die Amerikanistik-Professorin Laura Bieger, der Geisteswissenschafts-Allrounder Herbert Grieshop, der Germanistikstudent Dustin Breitenwischer und die Autorin Annika Reich. Diskutiert wird anhand dreier Klassiker zum Thema. Diesmal sind es Martin Heideggers Aufsatz "Bauen Wohnen Sein", Edgar Reitz' Film "Heimat" und Joseph von Eichendorfs Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts". Letztere nervt Reich, vor allem, weil da dauernd vor Lebensfreude gehüpft werde. Gehüpft und gesungen, ergänzt Grieshop. 14 Gedichte gebe es im Text, alle seien vertont. Überhaupt habe Eichendorff es verstanden, sein Thema auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen.
Was den Oberlehrern in der biederen Adenauer-BRD gefiel, gefiel gleichzeitig auch Ostblock-Literaturtheoretikern wie Georg Lukács. Antibürgerlich fand er den "Taugenichts". Reich nannte den
Protagonisten mit dem chronischen Fernweh einen poetischen Anarchisten, dem am Schutzraum Heimat nicht besonders gelegen sei. Elementar unbehaust empfinde sich der Mensch in der Moderne, Heimat
bekomme er nicht mehr mitgegeben, sondern sie müsse erst konstruiert werden. Das geschehe heute an ganz anderen Orten als früher. Ging es vormals noch darum, die eigene Wohnung einzurichten,
müsse jetzt auch die Facebook-Seite mit Bildern und Infos bestückt werden. Heimat sei ein Konzept, zu dem Familienangehörige und Freunde ebenso gehören könnten wie Gerüche oder Farben.
Heimat als Lifestyleprodukt
Die zweite Runde beim schöngeistigen Schaudenken leitet Grieshop mit einer Kritik an Heideggers Aufsatz und einem Lob für Reitz' Film ein. Die Heidegger-Methode, alles etymologisch
herzuleiten, sei oft überzogen. Die Familiengeschichte, die Reitz in seiner Heimat-Reihe erzähle, sei deshalb so aufschlussreich, weil sie das Thema sehr konkret auffasse. Heimat sei hier
Dialekt, Provinz, Familie, Gemeinschaft. Erst anhand des Films habe er, Grieshop, verstanden, wie es möglich gewesen sei, dass viele Deutschen noch Ende der 30er Jahre Hitler unterstützt
hätten.
Reich wies darauf hin, dass der faschistisch eingefärbte Heimatbegriff mit dem Film aber auch mit der grünen Anti-Atomkraft-Bewegung der 80er Jahre rehabilitiert und zu einem neuen
Regionalismus geformt worden sei. Heute dagegen sei Heimat reiner Lifestyle. Die Frage, wie das Zimmer einzurichten und welcher Stadtteil schick sei, sei gänzlich unpolitisch. Breitenwischs
Einwand, das Zuhause und die Heimat seien unterschiedliche Begriffe - der eine sinnlich, der andere eher metaphysisch - ergänzte Bieger mit der Beschreibung, das Zuhause bezeichne lokal
aufgefasst einen engeren Kreis, die Heimat einen Raum, etwas wie den Kietz, in dem man lebe. Heimat befinde sich als solche immer in Konkurrenz mit anderen Orten. Besser, schlechter, schöner oder
hässlicher seien die als das Zuhause.
Ein Flyer zum Abschied
Zur Begrüßung gibt es ein Bier, zum Abschied wird Schuberts "Lindenbaum" gespielt und ein Flyer verteilt. Drauf abgedruckt ist ein Fragebogen. Der stammt aus den Tagebüchern von Max Frisch.
Frage 17 lautet: "Was macht Sie heimatlos?" zur Auswahl schlägt Frisch "Arbeitslosigkeit" oder "Vertreibung" vor, aber auch "anders denken". Im Roten Salon haben sich alle zuhause gefühlt. Auf
einem großformatigen Plakat am Eingang werden die Themenvorschläge für die nächste Veranstaltung gesammelt. "Krise" steht da, klar. "Tennis" und "Abseits". "Luxus" und "Solidarität". Mal sehen,
für was die vier sich entscheiden werden. Am 8. Juni werden sie wieder Platz nehmen, um auf dem Podium vor launigem Publikum vorzudenken und um die unten zum Nachdenken anzuregen.