Kultur

Die Verschwundenen und ihre Kinder

von Volker Breidecker · 6. Oktober 2010
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Unter der sieben Jahre dauernden Herrschaft des grausamsten Militärregimes, das der lateinamerikanische Kontinent je gesehen hat, wurden Zehntausende zu Opfern von Entführung, Folter und Ermordung. Treffen konnte es jeden. Wen es traf, von dem blieben keine Spuren und nicht einmal die Leiche zurück. Er wurde zur namenlosen Nummer.

Für den Autor Martín Caparrós ist das Wort desaparecidos (span. "Die Verschwundenen") Argentiniens "Beitrag zum globalen Wortschatz". "Ausente por desaparición forzada" ("abwesend infolge erzwungenen Verschwindens") lautet die spätere juristische Formel für das Schicksal von rund 30 000 Menschen: "Es verschwanden Kinder aus dem Bauch ihrer Mütter, und es verschwanden Mütter aus der Erinnerung ihrer Kinder", schreibt Tomás Eloy Martínez (1934-2010), in "Purgatorio" (S. Fischer Verlag).

Der Roman ist eine großartige Verdichtung der neueren argentinischen Geschichte zu einem epischen Gemälde. Er ist zeitgeschichtliche Chronik und literarisches Vermächtnis in einem. "Einige wenige (Kinder) tauchten Jahre später wieder auf, aber sie waren nicht mehr dieselben. Sie hatten einen anderen Namen, andere Eltern und eine Geschichte, die nicht mehr die ihre war", schreibt er.

Nichts kann diese Wunden heilen

Und wie viel Folter und, sofern er überlebt, wie viel Angst danach kann ein Mensch aushalten? "...du bist niemand du existierst nicht du bedeutest niemandem etwas du bist schon tot du idiotin man hat es dir nur noch nicht gesagt..." So beschreibt Martin Caparrós in seinem Roman "Wir haben uns geirrt" (Berlin Verlag) die grausam stumme Sprache der Folter und derjenigen, die sie mit so gelangweilter Routine ausüben, dass sie der Monotonie ihrer Profession zuweilen überdrüssig sind.

Die Wunden heilt weder die Zeit noch die räumliche Entfernung: "Am Anfang waren es nur Bilder … und plötzlich befanden sich in ihrem Zimmer in Valencia, zwanzig und wie viele Jahre danach? … die Folterbank, ihr nackter, von den Stromstößen gebeutelter Körper, die Stimme ihres Peinigers und ihr Wimmern." Elsa Osorio, Jahrgang 1952, setzt die Protagonistin einer Erzählung ihrer Sammlung "Sackgasse mit Ausgang" (Suhrkamp) im sicheren Exil der Wiederbegegnung mit ihrem Folterer aus.

Kinder mit geraubter Identität

Man schätzt, dass etwa 500 in den Geheimgefängnissen und Konzentrationslagern geborene Kinder von Müttern, die schwanger aufgegriffen und erst nach der Niederkunft ermordet wurden, systematisch zur Adoption, zumeist an kinderlose Militärs - oftmals die Mörder ihrer Eltern - freigegeben wurden. Diese Kinder sind heute erwachsen. Viele von ihnen suchen - unterstützt von Bürgerrechtsorganisationen wie den "Großmüttern von der Plaza de Mayo" - nach ihrer geraubten Identität.

Und sie schreiben als Angehörige einer betrogenen Generation, wie die Dramatikerin Lola Arias, Jahrgang 1976, über "Mein Leben danach" (Verlag der Autoren): "Mein Bruder ist nicht mein Bruder, meine Mutter ist nicht die Mutter meines Bruders, und mein Vater hat viele Gesichter."

Der gleichaltrige Félix Bruzzone schildert in seinem Erzählungsband "76" (Berenberg Verlag), dass auch die profansten Dinge und Handlungen eines jugendlichen
Alltags imprägniert sind vom Bewusstsein der Abwesenheiten, schmerzhaften Empfindungen des Mangels, unwillkürlichen Nachforschungen, ständigen Grübeleien, kleinen wie großen Traurigkeiten, Süchten und Sehnsüchten. In der Folge befinden sich die Protagonisten in einer steten Alarmstellung gegenüber ihrer Umwelt. Sie können ihr niemals ganz trauen.

Fernes Argentinien so nah

So kennt das Trauma kein "Danach". Das Trauma selbst ist das anhaltend brennende "Danach" einer Vergangenheit, die nicht vergeht. Das Trauma ist kein singuläres Ereignis aus der Vergangenheit, sondern es ist die anhaltende Probe auf die Gegenwart des Vergangenen.
Heute, drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Diktatur in einem absurden Krieg um die Falkland-Inseln, in dem wiederum vor allem junge Menschen grausam verheizt wurden, hat die sowohl juristische als auch literarische Aufarbeitung des argentinischen Staatsterrorismus einen vorläufigen Höhepunkt, auch ein qualitativ hohes Niveau, erreicht.

Von Deutschland aus betrachtet, das mit der Aufarbeitung seiner dunkelsten Jahre auch erst begann, als es davon eingeholt wurde, sollte dies am wenigstens verwundern. Darin ist das am südlichen Ende der Welt gelegene ferne Land Europa sehr, sehr nahe.

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