Kultur

Die Suche nach dem aufrechten Gang

von Dagmar Günther · 15. Dezember 2008
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"Was trieb eine Frau, die dem deutschen Dienstadel und damit den herrschenden Schichten entstammte, in ein Leben mit der Pfandleihe? Wieso floh sie, der die Tür zu preußischen Regierungskreisen weit offen stand, in die Arme eines dauerhaft erfolglosen Wissenschaftlers? Woraus speiste sich die sprichwörtliche Freizügigkeit dieser Frau? Was trieb sie nicht selten sogar in die Verschwendungssucht? Weshalb ertrug sie es, sich von ihrem eigenen Mann mit der Haushälterin betrogen zu sehen? Warum lebte diese Frau manches Jahr ein permanentes Carpe diem mit ständig freier Sicht in den Abgrund?..." Fragen über Fragen stellt der Autor Jörn Schlütrumpf, Verleger der Zeitschrift "Das Blättchen" und Mitglied der Geschäftsführung des Dietz Verlages, seinem Buch über Jenny von Westphalen, verheiratete Frau Dr. Karl Marx, voran.

Lebens-Puzzle

Und Stück für Stück lässt er den Leser die Antworten finden: So begibt Jörn Schlütrumpf sich zunächst auf die Surensuche, um Jenny Marx dann in "Kurze Umrisse eines bewegten Lebens", einem kleinen Aufsatz aus "Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels" selbst zu Wort kommen lassen. Und schließlich präsentiert er Auszüge aus den wenigen erhalten gebliebenen Briefen, die Jenny an ihren Ehemann Karl Marx, an den Freund und Helfer in der finanziellen Not Friedrich Engels, den Journalisten und Zeitungsherausgeber Joseph Arnold Weydemeyer, ihre Freundin Ernestine Liebknecht und viele andere schrieb.

Aus diesen drei Teilen einsteht ein Bild von Jenny Marx, wie es authentischer nicht sein kann. Es ist ihre unendliche, "macht- und unterwerfungsfreie" Liebe zu Karl, die sie alle Widrigkeiten des Lebens in Armut und sogar sein Untreue ertragen lässt. Und ganz sicher wäre er ohne ihre kühnen und klugen Ratschläge nicht zu derartigem Ruhm gelangt. Es ist das Vertrauen in die eigene Kraft, das die im Alter von Krankheiten gezeichnete Frau die Shakespeare-Renaissance von London nach Deutschland tragen lässt. Und es ist eine gehörige Portion Mut, die sie das Leben an der Seite von Karl bestreiten lässt. Aber sie hatte sich nunmal für den vier Jahre Jüngeren entschieden, nachdem ihre erste Verlobung mit dem Secondeleutnant Karl von Pannewitz nur kurze Zeit währte.

Mit allen Konsequenzen

Jederzeit hätte sie das Exil verlassen können, in das sie ihrem Mann gefolgt war. Denn Ihr Bruder, der preußische Innenminister Ferdinand von Westphalen bot ihr und ihren Kindern eine Existenz, wie sie beim deutschen Dienstadel üblich war. Doch Jenny schickte sich in ihr Schicksal - mehr noch: Sie lebte nach dem alten aristokratischen Kodex, nicht unter das einmal erreichte intellektuelle und kulturelle Niveau zu rutschen. Und das mit allen Konsequenzen! Sie war auf der Suche nach dem aufrechten Gang und hat ihn an der Seite von Karl Marx vollzogen.

"Was eine solche Frau mit so scharfem und kritischen Verstande, mit einem politisch so sicheren Takt, mit solch einer leidenschaftlichen Energie, solch großer Hingabe, in der revolutionären Bewegung geleistet, das hat sich nicht an die Öffentlichkeit vorgedrängt, ist niemals in den Spalten den Presse erwähnt worden. Was sie getan hat, wissen nur die, die mit ihr gelebt haben", betonte Friedrich Engels in der Grabrede für Jenny Marx. Jörn Schlütrumpf enthüllt, warum diese Frau so und nicht anders lebte.

Jörn Schlütrumpf (HG.): Jenny Marx oder die Suche nach dem aufrechten Gang, Dietz Verlag, Berlin 2008, 142 Seiten, 6,90 Euro, ISBN 978-3-320-02147-4

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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