Filme, die ästhetische Experimente wagen oder gar an gesellschaftlichen Tabus rütteln, haben es schwer in Russland. Entweder gibt es kein Geld oder Verleihfirmen üben Selbstzensur. „Stille Seelen“ ist eine freudige Ausnahme. Vor allem der unbefangene Umgang mit dem Tod fällt aus dem Rahmen.
Ohne Menschen, die einfach nur funktionieren, wäre die Sowjetunion undenkbar gewesen. Vor allem dann, wenn sie an irgendeinen entlegenen Ort verpflanzt werden, um für den Wohlstand des Landes zu schuften. Viele dieser Orte gibt es bis heute, seien sie in der russischen Öffentlichkeit noch so vergessen. „How I Ended This Summer“ griff dieses sowjetische Erbe vor zwei Jahren in einem Drama um zwei einsame Polarforscher in der Tundra auf. Das speist sich auch davon, wie die Schnelllebigkeit des Jetzt auf den gemächlichen Rhythmus vergangen geglaubter Zeiten prallt. Von diesem Clash erzählt im übertragenen Sinne auch „Stille Seelen“. Allerdings gelingt es den Protagonisten ziemlich schnell, die Gegenwart abzustreifen.
Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist eine heruntergekommene Fabrik mit einer hingeworfenen Siedlung. Beide liegen wie ein gestrandetes Schiff in Russlands Pampa. Sie sind der Bezugsrahmen für die Geschichte einer Liebe, die den Tod überdauert und zwei Männer zur Suche nach Identität antreibt. In der Weite des russischen Raumes, spiegelt sich auch die Weite des Daseins. Doch die Perspektive von Aleksei Fedorchenko Regiearbeit reicht weit darüber hinaus. Es geht um die Frage, was aussterbende Traditionen im Menschen in Gang zu setzen vermögen. Gerade in Ausnahmesituationen, so ist hier zu sehen, erwachen sie mitunter zu neuem Leben. Manchmal mit ungeahnten Folgen.
Mythos Wolga
Genauso ergeht es Fabrikchef Miron. Er ist der Kapitän auf dem gestrandeten Schiff. Miron gehört zur Volksgruppe der Merja, die einst am Oberlauf der Wolga lebten. Daher wird die finnische Minderheit, die vor 400 Jahren slawisiert wurde, auch Wolga-Finnen genannt. Was wiederum einiges über die mythologischen Bezugspunkte der Merja verrät: der Fluss und die Liebe. Eines Tages ruft Miron seinen engsten Vertrauten Aist zu sich. Der Grund: Mirons geliebte Frau Tanja ist unerwartet verstorben. Der Witwer beschließt, seine Frau am Flussufer zu bestatten. Um nicht zu sagen: nach Hause zu bringen. Jenes Ritual ist nach dem Glauben der Merja das Letzte, was den Menschen mit dem Leben verbindet.
Die Reise beginnt zunächst im Schlafzimmer. Nahezu regungslos waschen die beiden Männer Tanjas Leiche. Wie es der überlieferte Ritus vorschreibt, legen sie der Scham der Toten einen Brautschmuck an. Gerade in dieser Szene erreicht Fedorchenkos Realismus, der zugleich etwas Magisches hat, eine besondere Tiefe – lässt er doch die besondere Emotionalität dieser Situation erahnen. Zumal klar ist, dass auch Aist diese Frau geliebt hat. Mit der Leiche auf der Rückbank geht es auf zum großen Fluss. Dorthin, wo die frisch verheirateten Tanja und Miron einst glücklich waren. Zurück in eine neue alte Heimat.
In Rückblenden dreht Fedorchenko die Zeit zu jenen Momenten des Glücks immer wieder zurück. Das Roadmovie nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise mit unbekanntem Ausgang, doch in Wahrheit geht es ohnehin darum, dass Miron sein Leben mit Tanja neu durchlebt. Und dass auch Aist begreift, wie sich sein Weg in dieses einsame, aber auch erfüllte Dasein formte. Bis zum Horizont reicht der Blick der Männer, wenn sie durch die unendliche Tiefebene gondeln oder mächtige Ströme überqueren. Es sind Bilder von einer überwältigenden Kraft, die gerade zu dazu einladen, sich von und vom Träumen überwältigen zu lassen. Der Preis für die beste Kameraführung, mit dem Kameramann Michail Krichman im vergangenen Jahr beim Filmfestival von Venedig ausgezeichnet wurde, war hochverdient. Auch deswegen, weil seine Bildsprache für jede Erzählebene die richtigen Mittel findet, ohne an Intensität zu verlieren.
Das gilt auch für Mirons Erinnerungen an Momente der Zweisamkeit. Zum Beispiel, wie er seine Frau vor dem Liebesspiel mit Wodka übergießt – der gründlichen Reinigung wegen. „Alles ging von mir aus“, sagt Miron, wenn er Aist Intimstes aus seinem Eheleben preisgibt. Auch derlei Gespräche, „Rauch“ genannt, sind Teil der Tradition, der Toten zu gedenken. Was wiederum die Fragwürdigkeit so mancher Überlieferung offenbart. Doch gerade wenn diese zu verschwinden drohen, wird der Umgang damit bekanntlich umso unkritischer.
Was bleibt?
Doch was kann noch kommen, als Tanja nunmehr auf den Holzscheiten aufgebahrt liegt? Eines ist klar: Miron und Aist sind damit noch lange nicht am Ziel. Um ihre Sehnsucht zu Tanja und zu ihren Wurzeln zu stillen, müssen sie einen weiteren Schritt gehen. Die Erlösung kommt unerwartet. Und alles fließt.
Info:
Stille Seilen (Ovsyanki, Russland 2010), ein Film von Aleksei Fedorchenko, Kamera: Michail Krichman, mit Igor Sergeyew, Viktor Sukhorukov, Yuliya Aug u.a., OmU, 77 Minuten. Ab sofort im Kino