Kultur

Die Metzgerstochter

von Birgit Güll · 16. Dezember 2009
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"Empfangen am Sabbat/ Entbunden durch ein Pogrom": So beschreibt der Romanheld Itsik Malpesch den Beginn seiner Existenz. Denn ein christlicher Mob wütet durch das zum zaristischen Russland gehörende Kischinjow, als er 1903 in einer jüdischen Familie zur Welt kommt. Bei den antisemitischen Ausschreitungen wird auch einer der Schächter der Stadt, Moische Bimko, ermordet. Seine Tochter überlebt. Versteckt im Haus der Malpeschs wird die 4-jährige Sascha Bimko Zeugin des Pogroms und der Geburt des kleinen Itsik. Danach verlässt sie mit ihrer Mutter die Stadt Richtung Odessa.

Neue Welten
Für Itsik eröffnen sich neue Welten als er als Talmudschüler Literatur und Sprache für sich entdeckt. Dostojewskis "Schuld und Sühne" präsentiert Manseau als erste literarische Liebe seines Romanhelden. Dessen dichterischen Ambitionen und seine Russischkenntnisse bringen ihn allerdings bald in Gefahr. Itsik muss Kischinjow verlassen. Der 11-Jährige macht sich auf den Weg nach Odessa. Sascha Bimko trifft er dort allerdings nicht. Sie ist nach Palästina ausgewandert.

Es bleibt die Sprache: Itsik fühlt sich zum Dichter berufen. Sascha, die er nur von einem Foto kennt, ist Muse und Adressatin seiner Gedichte und Sehnsüchte. In Odessa wird er zum Schriftsetzer für Jiddisch und Hebräisch. - Eine Fertigkeit, die auch der Autor des Romans beherrscht. Er lässt seine Figur, versteckt in einer Kiste voll Druck-Lettern, 21-jährig in die USA ausreisen. In New York eröffnet die Sprache einmal mehr einen Weg: Diesmal in Gestalt von Harry Knobloch, des Besitzers einer riesigen jiddischen Bibliothek. - Jener "Bibliothek der unerfüllten Träume" welche die deutsche Roman-Übersetzung als Titel vorzog.

Übersetzt
In New York lässt der Autor alle Fäden zusammen laufen: Itsik trifft neben anderen europäischen Bekannten auch Sascha Bimko. Als schicksalhafte Liebe beschreibt Manseau seine Beziehung zu der Metzgertochter, die seiner Geburt beiwohnte. Bald erwarten die beiden ein Kind. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer. Die schwangere Sascha verschwindet aus Itsiks Leben. Sie taucht erst wieder darin auf, als der inzwischen über 90-Jährige einen Übersetzer für seine auf Jiddisch verfassten Memoiren ins Englische findet. Die Leben der beiden Männer sind verwoben - und gleichen einander zerrspiegelartig.

Der "Übersetzer" erzählt seine Geschichte in zahlreichen, mit "Anmerkung des Übersetzers" überschrieben Kapiteln: Seine Sascha heißt Clara und ist, wie er herausfinden wird, die Ur-Enkelin Itsik Malpeschs. Das schreit nach Familienzusammenführung und der Autor bleibt sie nicht schuldig: Am Ende von mehr als 400 Buchseiten werden Itsik und Sascha noch einmal aufeinander treffen. Bis es soweit ist, nutzt Manseau den "Übersetzer" als Kommentator. Der Autor liefert über diese Erzählerfigur allzu viele Erklärungen und lenkt - keineswegs subtil - die Aufmerksamkeit des Lesers.

Reißbrett
Manseau entwirft ein facettenreiches Tableau über Sprache und Literatur, Religion und Sehnsucht, Schuld und Sühne. Doch der Roman scheint auf dem Reißbrett konstruiert. Allzu deutlich ist die Hand des Autors, welche die Figuren führt. Sie hält die Handlungsstränge zu fest und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers zu nachdrücklich. Das hat etwas Verbissenes. Es sorgt dafür, dass den Charakteren des Buches die Tiefe fehlt, der Handlung die Leichtigkeit. Die Hommage an Sprache und Literatur ist weder lebendig noch ungezwungen. Sie ist überbetont. Metaphern wie jene von "Sprache als Heimat" sind so abgenutzt, dass sie ins Kitschige geraten. So ist "Bibliothek der unerfüllten Träume" zwar keine unspannende Lektüre, aber auch keine große Literatur.

Peter Manseau: "Bibliothek der unerfüllten Träume" Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum, Hoffmann und Campe, Hamburg, 2009, 443 Seiten, 23 Euro, ISBN 978--3-455-40200-1

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Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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