Windschief und winzig klein ist das Haus, in dem Évi mit ihrer Tochter Aja lebt. In Seris Erinnerung schwebt es, der Garten ist ein Paradies. Für die Erzählerin aus Zsuzsa Bánks "Die hellen Tage" bekommt der Ort, der untrennbar mit ihrer Kindheit verbunden ist, eine magische Qualität. Drei Linden - eine für jeden der Freunde - ein schleifendes Gartentor, eine winzige Küche. Ein Sehnsuchtsort, dem Bánk mit ihrer poetischen Sprache Leben einhaucht.
"Die Zumutungen, die das Leben für uns bereithielt"
Seri, die eigentlich Therese heißt, und Aja hatten sich gefunden, "wie Kinder sich finden, ohne zu zögern, ohne Umstände". Karl war später dazugestoßen. Da klaffte in seinem Leben bereits eine Lücke: er hat einen "toten Schatten" statt einen lebenden Bruder. Der ist verschwunden. Auch Seri und Aja haben eine Leerstelle in ihren Leben: Seris Vater starb kurz nachdem er den Namen seiner Tochter ausgesucht hat. Und Ajas Vater Zigi, der Artist, verbringt nur wenige Wochen im Jahr in der kleinen Stadt Kirchblüt.
"Karl, Aja und ich, wir hatten keine Väter, jedenfalls nicht so, wie andere Kinder Väter hatten. Wir hatten unsere Mütter, mit ihren stillen Geheimnissen, die sie hüteten wie Schätze." Die drei Mütter bilden ein Dreieck. Zögerlich zunächst haben sie sich über ihre Kinder angenähert, haben "einander aufgefangen und gehalten". Aja, Seri und Karl haben zusammengefunden, "schon weil die Zumutungen, die das Leben für uns breithielt, so besser auszuhalten waren".
"Die Spitze eines Dreiecks"
Évi, die so anders ist als die anderen Mütter in Kirchblüt, ist mit Zigi und Aja über die grüne Grenze aus Ungarn gekommen. Die beiden Zirkusartisten haben wohl die Zeit nach dem Volksaufstand 1956 genutzt, sind "durch die schmale Zeitschleuse geschlüpft". Bánk erklärt nicht, belehrt nicht. Évi sorgt dafür, dass Aja, Seri und Karl in den 60ern "helle Tage" der Kindheit verleben. Ein Ausdruck, den Zsuzsa Bánk beständig wiederholt, ein Leitmotiv.
Im Laufe der Geschichte der Freunde, im Laufe ihrer Leben, gibt es Verschiebungen, aber "unser Dreieck blieb an seinen Spitzen geschlossen". Das Dreieck ist in Bánks stillem, melancholischem Buch über Freundschaft, genau wie die viel beschworenen "hellen Tage", eine wiederkehrende Figur. Selbst Karls kleine Brandnarbe sieht in dem kunstvoll gewebtem Text aus "wie die Spitze eines Dreiecks".
"Die hellen Tage behalte ich"
Die drei Freunde gehen nach dem Studium nach Rom, erfinden sich neu. Dabei müssen sie erkennen, dass die Gewissheiten ihrer Kindheit keine Wahrheiten waren. Als Erwachsene können sie nicht länger an Évis magischem Haus, dem Ort ihrer Kindheit, festhalten, "weil sich alles gedreht und verschoben hat". Sie müssen mit dunklen Tagen leben. Nur Évi muss das nicht, für sie gelten andere Gesetze. Ihr Gedächtnis gibt auf, sie entzieht sich: "Die hellen Tage behalte ich, die dunklen gebe ich dem Schicksal zurück."
Neun Jahre nach ihrem preisgekrönten Debüt "Der Schwimmer", liegt Bánks zweiter Roman vor. Die in Frankfurt lebende Tochter ungarischer Eltern hat mit "Die hellen Tage" einmal mehr ein dichtes, melancholisches Buch geschrieben. Der Text hat einen eigenen Klang und einen anderen Zauber, ist aber ebenso beeindruckend schön. Bánks poetische Sprache schwebt dicht über dem Kitsch, berührt ihn aber nie. Diese Kunst macht das Buch zu einem Ereignis.
Zsuzsa Bánk: "Die hellen Tage", S. Fischer, Frankfurt/Main 2011, 544 Seiten, 21,95 Euro, 978-3-10-005222-3