Kultur

Die Jahrhundert-Zeugen

von Die Redaktion · 23. April 2007
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Wenn die beiden Zeitzeugen und Freunde sprechen wird Zeitgeschichte lebendig. Leonhard und Genscher lassen die letzten 60 Jahre im Schnelldurchgang Revue passieren. Besonders prägende Erlebnisse heben Sie hervor, erzählen Anekdoten und berichten von persönlichen Erfahrungen.

Der Unterschied zwischen Ulbricht und Honecker? "Ulbricht war skeptischer und kritischer", prüfte Meldungen, "besonders wenn sie sehr positiv waren." Honecker war stets darauf bedacht, "alle Privilegien in Anspruch zu nehmen." Zahlreiche Anekdoten hat Leonhard bei der Buchvorstellung zu berichten: "Es lebe die SED, der große Freund der kleinen Nazis" - so reagiert die Öffentlichkeit, als die Partei - auf Stalins Geheiß - offen um ehemalige NSDAP-Mitglieder buhlte. Er erzählt wie dieser Spruch die Runde machte.

Schlaglichtartig hebt Leonhard Ereignisse hervor, die er im seinem neuen Buch ausführlich beschreibt. Wie er mit Ulbricht im April 1945 nach Berlin fliegt und der ihm erklärt: "Also das mit deinem russischen Namen, das geht so nicht. Wolodja! Nimm dir doch einen deutschen Namen." So wird Wolfgang daraus, so hatte er bereits in der Komintern-Schule geheißen. Vier Jahre lang wird er am Aufbau des Systems der Sowjetzone mitwirken, bis er - enttäuscht von der Angleichung an die stalinistische Sowjetunion - in Titos Jugoslawien flieht.

Von dort geht er in die Bundesrepublik und verfolgt die politische Entwicklung im Osten. Bald ist Leonhard, der Autor von "Die Revolution entlässt ihre Kinder", als einer der führenden Ost-Experten anerkannt. Seit 1964, rechnete er mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems. Denn mit Breschnew, so Leonhard, "war kein Leben mehr im System." Mit Gorbatschow kommt die konkrete Hoffnung. Hier räumt Genscher ein, dass Leonhard ihm dabei half Gorbatschow richtig einzuschätzen, seine Bedeutung zu erkennen.

Dann spricht Leonhard über die friedliche Revolution, die die DDR zu Fall brachte. Den 9. Oktober, als 70 000 auf dem Leipziger Ring demonstrieren, empfindet Leonhard als wichtigsten Tag in der jüngeren deutschen Geschichte. Er solle, statt des 3. Oktobers, gefeiert werden, erklärt er. Auch Genscher würdigt diesen Verdienst der Ostdeutschen. "Keiner ist mit leeren Händen in diese Einheit gekommen", erläutert er. Wo die Westdeutschen ihre funktionierende Demokratie und Wirtschaft hatten, hatten die Ostdeutschen ihre "selbst errungene Freiheit."

Mit den Kritikern und Bürgerrechtlern der DDR fühlte Leonhard, der erste Dissident, sich stets verbunden. "In den nächsten Jahren sollen Wessis nur noch in Ausnahmefällen große Orden bekommen", erklärte er. Schließlich "waren die Kritiker der DDR mutig genug, unter Bedrohung zu kämpfen. Ihnen gebührt unsere Aufmerksamkeit."

Letztlich wagen die beiden Zeitzeugen noch einen Ausblick auf die Zukunft. "Unsere Zukunft heißt Europa", sagt Genscher, und er werde dafür tun was er könne. Leonhard, etwas zurückhaltender, erklärt, er sei "vorsichtig optimistisch, dass wir in eine reifere, nachdenklichere Zeit der Demokratie kommen werden." Politiker, die vorgeben auf alles Antworten zu haben, würden nicht mehr gewählt, sagt er, es werde Zeit die Menschen einzubeziehen.

Mit "Meine Geschichte der DDR" ermöglicht der letzte Überlebende der "Gruppe Ulbricht" einen spannenden Einblick in die Gründungszeit der DDR. Das Buch ist ein sehr persönlicher Bericht über ein ereignisreiches Leben und ein wichtiges, lesenswertes Dokument. "Man wird nicht daran vorbeikommen Wolfgang Leonhard zu zitieren", so Genscher.

Birgit Güll

Leonhard, Wolfgang: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt Verlag, Berlin 2007, 266 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 10-3871345725

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