Die dunkle Seite des Shoppens
Als der indische Baumwollbauer, von dem eine Episode des US-Dokumentarfilms erzählt, nicht mehr weiter wusste, ging er auf sein Feld und trank eine Flasche Pestizide. Kein Einzelfall: Zwischen 2003 und 2013 erfasste eine Selbstmordwelle die Baumwollbranche auf dem Subkontinent: Rund 200.000 Bauern nahmen sich das Leben, weil sie vor einem riesigen Schuldenberg standen. Für teures genmanipuliertes Saatgut und Pflanzenschutzmittel hatten sie sich hoch verschuldet. Jahr für Jahr stiegen die Kosten, doch die Erträge blieben gering. Die Abnehmer der Ernte, nämlich die Bekleidungsfabriken, scherte das wenig. Hat jemals einer außerhalb Indiens von diesem Skandal erfahren?
Es ist eine von vielen kaum bekannten, umso schmutzigeren Seiten des globalen Modebooms, die der Filmemacher Andrew Morgan in „The True Cost“ („Die wahren Kosten“) zu einer über weite Strecken erschütternden Erzählung verknüpft und der Glitzerwelt der Werbung gegenüberstellt. Klar: Dass der weltweite Massenkonsum von Bekleidung auf der Ausbeutung von billigen Arbeitskräften und massiver Umweltverschmutzung beruht, ist lange bekannt. Morgan gibt den Betroffenen nun ein Gesicht, macht die Folgen für die Natur an konkreten Schauplätzen deutlich. Und schärft damit das Bewusstsein für ein fatales Gespann aus Leid und Gier.
Der wahre Preis billiger Kleidung
Im Zentrum der Dokumenation steht das Phänomen „Fast Fashion“. Folgte die Mode vor gut drei Jahrzehnten noch den Jahreszeiten, wird der Markt heutzutage Woche für Woche mit dem neuesten Chic überschwemmt. Mittlerweile werden pro Jahr rund 80 Milliarden Kleidungsstücke verkauft. Billig müssen die begehrten Teile sein, schließlich sollen sie nicht länger als nötig getragen werden, bevor sie in die Mülltonne wandern und durch neue Kurzzeit-Errungenschaften ersetzt werden. Doch lässt sich ein T-Shirt wirklich für fünf Euro herstellen, zumal bei steigenden Kosten? Ja, aber um einen unerträglich hohen Preis. Doch wie lange noch?
Der Film führt den Zuschauer an die Werkbank der Modemultis. Zum Beispiel nach Bangladesch. Als im vergangenen Jahr in der Hauptstadt Dhaka eine achtstöckiges Fabrikgebäude einstürzte und rund 1100 Textilarbeiter – größtenteils Frauen – unter sich begrub, war der Aufschrei im Ausland groß. Abgesehen von Lippenbekenntnissen der Handelsketten tat sich wenig. Die sind ohnehin fein raus, weil sie Firmen mit der Fertigung beauftragen, ohne die Arbeiter selbst einzustellen. Dafür verkürzen sie ständig die Auslieferungsfristen für die Waren, was den ohnehin mörderischen Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter noch erhöht.
Auch von dieser Hölle der Nähmaschinenhallen berichtet „The True Cost“, aber ebenso vom Widerstand gegen schlechte Bezahlung, marode Fertigungsstätten und fehlende Mitbestimmung. Man lernt eine junge Gewerkschafterin kennen, die ihr Kind nur einmal im Jahr sehen kann, weil sie bis zur Erschöpfung für wenige Dollar im Monat schuftet.
Jeder sechste Mensch arbeitet in der Bekleidungsindustrie
Der Zuschauer wird Zeuge von der Brutalität, mit der Unternehmer in Bangladesch oder Kambodscha gegen die Forderungen ihrer Belegschaft vorgehen, oftmals unterstützt von der Politik. Nach ihrer Logik bedroht jede Kostensteigerung ihre Existenz und ein ganzes Wirtschaftssystem, schließlich können H&M, Zara und Co. jederzeit woanders produzieren. Freimütig berichten davon einige Arbeitgeber vor der Kamera.
Ihr Wort hat Gewicht: Jeder sechste Mensch auf der Erde arbeitet heute in der Bekleidungsindustrie. Das ist Weltrekord und eine der monströsen, wenn auch schwer überprüfbaren Zahlen, die immer wieder eingestreut werden. Das statistische Material ist allerdings begrenzt: Anders als in Wirtschaftsdokus heute üblich, kommt der Film ohne Animationen aus, die komplexe Daten unterhaltsam erklären.
Es geht auch anders
Morgan verlässt sich ganz auf Interviews und Originalschauplätze. Er zeigt aber nicht nur die Folgen des Billigwahns in Südasien, wo Gerbereien Flüsse verseuchen und an deren Ufern Krebs und Geisteskrankheiten grassieren. Ebenso ist zu besichtigen, wie die Zerstörung von Mensch und Natur auch an ihren Ursprung zurückkehrt. Etwa nach Texas. Dort, rund um das größte Baumwollfeld der Welt, treten ebenfalls seltsame Krankheiten immer häufiger auf. Und haben sich all die jungen Mädchen, die ihre neuesten Schmuckstücke in Internetvideos präsentieren, jemals gefragt, was all die Chemikalien in den Textilien mit ihrer Haut anrichten? Dass Mode auch anders geht, zeigt ein nachhaltiges und ebenfalls global operierendes Londoner Label. Wie es wirtschaftlich dasteht, bleibt offen, doch die Mission der Managerin und ihrer Designerinnen beeindruckt.
Die Lage ist ernst, doch der Film kommt ohne Alarmismus oder Fatalismus aus. Vielmehr geht es um eine schonungslose, aber auch optimistische Note. Beides wird angenehm beiläufig serviert. Aus einer Mikroperspektive heraus zeigt „The True Cost“ Auswege aus dem Billig-Kreislauf auf. Dass sich dieser Gedanke weltumspannend durchsetzt, haben die Verbraucher in der Hand.
Info: The True Cost (USA 2015), ein Film von Andrew Morgan, 92 Minuten. Jetzt im Kino