Der Wert des Menschen – Geld oder Würde?
Der soziale Abstieg hat immer auch etwas mit Entmündigung zu tun. Menschen, die das Erwerbsleben ausgespuckt hat, geraten in die Mühlen der Bürokratie. Auch Thierry (Vincent Lindon) hat dieser Strudel längst erfasst. Seit 20 Monaten ist der gelernte Maschinist arbeitslos. Die Stütze reicht hinten und vorne nicht. Schon gar nicht, um die Betreuungskosten für den behinderten Sohn aufzubringen. Das Arbeitsamt verordnet dem Familienvater sinnlose Fortbildungen und Bewerbungstraining. Letzteres, um sich auf ebenso sinnlose Bewerbungsgespräche vorzubereiten.
Zu Beginn des Films landen wir mitten in einem jener Gespräche zwischen Thierry und seinem Kundenberater, wie man es auf neudeutsch sagen würde. Gestik und Mimik sprechen Bände: Jedes dieser Treffen kostet den 51-Jährigen unerträglich viel Überwindung. Zumal sich in ihm immer mehr das Gefühl verstetigt, dass niemand ihm helfen kann oder will.
Angst vor dem sozialen Abstieg
So wie Thierry ergeht es momentan rund 3,6 Millionen anderen Franzosen. Soziale Abstiegsängste haben ein Land erfasst, in dem die heile Welt der Facharbeiter über Jahrzehnte unerschütterlich schien. Die jüngsten Wahlerfolge des rechtsextremen Front National sind ein Ausdruck der zunehmend hoffnungslosen Stimmung.
Resignativ ist unterm Strich auch die Geschichte, die Regisseur Stéphane Brizé erzählt. Thierrys Welt liegt in Trümmern. Ob Bewerbungsgespräche via Skype oder die ungeliebten Coachings mit anderen Menschen in der Warteschleife: Misserfolg reiht sich für den gelernten Maschinisten an Misserfolg. Mit Mühe versucht er, seine Würde zu bewahren und einen eigenen Weg zurück in ein selbstbestimmtes und nach vorne gewandtes Dasein zu finden. Dass ehemalige Kollegen gegen die Schließung ihres früheren Werks, das ins kostengünstigere Ausland verlegt wurde, klagen wollen, ist für ihn Schnee von gestern. Halt geben ihm Frau und Sohn, doch die finanzielle Situation liegt wie ein dunkler Schatten über allem. Unverhofft klappt es doch noch mit einem neuen Job: Thierry fängt als Sicherheitsmitarbeiter in einem Supermarkt an. Damit scheint die Familie für Erste aus dem Schneider zu sein.
Menschenwürde unterliegt dem Gesetz des Marktes
Doch rasch merkt Thierry, dass an seinem neuen Arbeitsplatz Mechanismen greifen, die ihn als Arbeitsloser belastet haben: allen voran fehlendes Vertrauen und der Wille zur absoluten Kontrolle seitens derer, die ihm etwas zu sagen haben. Jene Anpassungsfähigkeit, die ihm vorher so fremd war, wird nun zur Überlebensgarantie. Und damit auch der Schlüssel zu einem weniger von wirtschaftlichen Sorgen geprägten Familienleben. Doch wie die um Stellenstreichungen bemühte Chefetage mit Mitarbeitern umgeht, denen kleine Unredlichkeiten unterlaufen, stellt Thierry auf eine harte Probe. Der Wert des Menschen: in dieser Arbeitswelt scheint sie allein dem Gesetz des Marktes zu unterliegen (so lautet auch der französische Originaltitel des Films). Lässt sich überhaupt noch Geld verdienen, ohne seine Würde zu verlieren? Vor dieser Frage steht eines Tages auch der frischgebackene Sicherheitsmitarbeiter.
Die Deklassierten der Gesellschaft sind seit der Frühzeit der Filmkunst bis heute immer wieder ein beliebtes Sujet. Angefangen bei Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Der letzte Mann“ mit Emil Jannings, der vom Portier eines Luxushotels zum Toilettenwart degradiert wird, über Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ hin zu Ken Loachs Sozialdramen und Produktionen jüngeren Datums wie „Zwei Tage, eine Nacht“. In vielen dieser Filme ging es auch darum, für seine Träume und ein besseres Leben zu kämpfen und sich mit Erfolg gegenüber mächtigen Gegnern zu behaupten.
Geld verdienen, ohne seine Würde zu verlieren?
Diese optimistische Note geht „Der Wert des Menschen“ völlig ab. Wo wird Thierrys Weg enden? Vielleicht hat gerade diese pessimistische, aber sehr realistisch inszenierte Schlagseite dafür gesorgt, dass der Film im vergangenen Jahr in Cannes gefeiert wurde. Hauptdarsteller Vincent Lindon wurde mit dem Preis für den besten Hauptdarsteller ausgezeichnet. Zweifellos trägt nicht zuletzt dessen Leistung das Ganze. In den wegen ihrer Nüchternheit und Distanziertheit schon fast dokumentarischen Bildern steht er meist im Mittelpunkt. Selbst wenn Thierry in einer Gruppe von Menschen gerade nicht das Wort führt, ruht der Kamerablick in quälend langen Einstellungen auf ihm. Die Widersprüche und Sehnsüchte, aber auch die Energie, die diesen Mann in permanenter Unruhe belassen, werden so intensiv erfahren, dass sich Zuschauer angesichts dieser Intimität fast schon peinlich berührt fühlen. Wie Lindon diesen facettenreichen wie starken Eindruck eines Getriebenen gerade mit einem zurückgenommenen Spiel erzeugt, ist eine Meisterleistung.
Die auf Thierry fokussierte Erzählweise hat ihren ganz eigenen Reiz: Brizé hat ihn nach eigenem Bekunden wie einen Boxer in Szene gesetzt, der in regelmäßigen Abständen einen Schlag abbekommt, ohne dass der, der ihn ausführt, zu sehen ist. Die reduzierte, mitunter etwas monotone Perspektive steht zugleich für eine erfrischende, weil eben nicht vordergründig anklagende Sicht auf Dinge. Die Bilder, die dabei im Kopf enstehen, tun ein Übriges.
Info: Der Wert des Menschen (La loi du marché, Frankreich 2015), Regie: Stéphane Brizé, Drehbuch: Stéphane Brizé und Oliver Gorce, Kamera: Eric Dumont, mit Vincent Lindon, Karine Petit de Mirbeck, Matthieu Schaller u.a., 93 Minuten. Jetzt im Kino