Der an der Universität Helsinki lehrende deutsche Historiker, Nordeuropaspezialist und Politikwissenschaftler Norbert Görtz bewies Mut. Er wagte den Vergleich des schwedischen "Volksheims"
(folkhem) mit der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft". Ob man die schwedische Sozialdemokratie denn überhaupt mit dem deutschen Nationalsozialismus vergleichen dürfe, fragte nicht nur Ruth
Jacoby, die Botschafterin des Königreichs Schweden während der Auszeichnungsveranstaltung. Man darf. "Manchmal müssen Äpfel mit Birnen verglichen werden, wenn etwas herauskommen soll", erklärte
Prof. Dr. Henningsen von der Humboldt Universität zu Berlin etwas salopp. Und traf damit den Kern.
Natürlich sind es ungleiche Geschwister und man muss jedes in seinem System betrachten, auch wenn beide gleichermaßen auf die Integration des gesamten Volkes setzen. Für Götz sind
"Volksgemeinschaft und "Volkheim" strukturell ähnliche Begriffe (...), die in derselben Zeitperiode ihre entscheidende Prägung erfahren haben. Und er will zeigen "wo durch die Begriffe hindurch
Linien verlaufen, die destruktive, aber auch klassische von nachhaltigen Modernisierungsvarianten unterscheiden". Ihren Bedeutungszusammenhang, die Gemeinsamkeit macht Götz darin aus "dass sie sich
auf einen latenten Begriff, einen gemeinsamen Sachverhalt oder eine entsprechende Problemstellung beziehen." Er spricht von "gemeinsamer Bedeutungsfülle". Und er arbeitet sowohl für das rechte als
auch für das linke gesellschaftspolitische Modell eine gemeinsame Wurzel heraus: den Sozialdarwinismus.
Lebenswelten im Vergleich
Davon ausgehend untersucht er deutsche und schwedische Lebenswelten in den 1930er und 1940er Jahren. Er beleuchtet am Beispiel der Jugend- und Sozialpolitik beider Länder die entscheidenden
Systemunterschiede. Bei der "Volksgemeinschaft" kritisiert er "die vorgetäuschte Ableitung des Begriffs "aus der konkreten und vertrauten Lebenswelt, (...) die Heimsuchung der Lebenswelt durch
ideologisch abgeleitetet Systemimperative, die Totalität des Übertragungsanspruchs auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft und die ganze Person". Das System würde die Lebenswelt kolonisieren,
Ideologie und Kollektiv vor den Bedürfnissen der Individuen rangieren. In Schweden hingegen, würden wirklichkeitsorientierte Theoriebildung und Politik dazu beitragen sollen, "die lebenswerte
Wirklichkeit lebenswerter zu machen." Es ginge als um "nachhaltige gesellschaftliche Modernisierung" das "Volkheim" wäre keine Ideologie, mit deren Hilfe Individuen unterjocht würden.
"Der Begriff Volksheim ist in Schweden positiv konnotiert. Wir verbinden mit ihm Wohlfahrt, Sicherheit und Geborgenheit", erläuterte Ruth Jacoby. Dies könne von der nationalsozialistischen
Volksgemeinschaft nicht behauptet werden, schließlich sei dies ein Lieblingswort Hitlers, dass er ständig für seine Propaganda verwandt hat, ergänzte Norbert Götz. Während die "Volksgemeinschaft"
zum Schlagwort einer Leitkultur wurde, wurde der Begriff "Volksheim" in der schwedischen Rhetorik eher sparsam verwandt.
Ideengeschichtliche Pionierstudie
"Diese Arbeit ist eine ideengeschichtliche Pionierstudie", unterstrich Prof. em. Dr. Heinrich August Winkler, von der Humboldt- Universität zu Berlin. Neben dem methodischen Ansatz spräche
auch die sprachliche Brillianz für die Verleihung des Preises, lobte Prof. Dr. Michael Schneider, Leiter des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert Stiftung. Anschließend überreichte
er Norbert Götz eine Fotokopie des Überweisungsträgers. Schließlich sei der Preis auch mit einer finanziellen Ausstattung verbunden, schmunzelte Michael Schneider.
"Es gibt Bücher, da ärgert man sich mehr und mehr, weil man diese Bücher nicht selbst geschrieben hat", setzte Prof. Dr. Thorsten Nybom, Skandinavist noch einen drauf. Jedoch nicht ohne zu
erwähnen, dass das Thema in seiner Heimat Schweden nicht neu sei. Es gäbe, zahlreiche Dissertationen dazu. Ganz offensichtlich hat man hier mehr Mut, geht offensiver damit um. Schon in den 30er
Jahren wurde in Schweden diskutiert, was die beiden Gesellschaftsordnungen, die beide auf Integration der Menschen setzten, unterscheide. "Wir sind etwas Besonderes. Wir sind ein bisschen besser
als alle anderen. Wir sagen das nicht laut, aber wir wissen es", betonte der Geisteswissenschaftler schmunzelnd.
Norbert Götz war dennoch glücklich und zufrieden. Das kann er auch sein. Vielleicht überschwemmt auch die hiesige Forschungslandschaft bald eine Fülle von Dissertationen zu seiner
Problematik, weil der "Pionier" Norbert Götz den Weg für Nachfolgestudien geebnet hat.
Anke Schoen
Norbert Götz: Ungleiche Geschwister - Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Nomos Verlag, ,558 Seiten, 70 Euro, ISBN 3-7890-7410
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