Claus Urspring, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hatte einen Autounfall. Als er aus dem Koma erwacht, kann er sich daran allerdings nicht erinnern. Und auch sonst hat Urspring
allerhand Gedächtnislücken. Er erkennt weder seine Frau, noch seinen Mitarbeiter, selbst sein Name fällt ihm nicht ein. Und es gibt noch etwas, woran er sich nicht erinnert: Was ist das bloß, ein
Ministerpräsident?
In seinem Roman "Der Ministerpräsident" lässt Autor Joachim Zelter Claus Urspring seine langsame Genesung erzählen. Schritt für Schritt lernt der verunfallte Politiker eine Welt kennen, in
der er sich einst schlafwandlerisch sicher bewegt haben muss. Mit großen Augen lauscht er seinem Referenten März, wenn dieser ihm erklärt, warum es wichtig sei, dass er Ministerpräsident ist und
es auch bleiben werde. Schließlich steht der Wahlkampf vor der Tür.
Politik als Symbolhandlung
Und so drillt März den kindlich staunenden Urspring gegen den Rat der Ärzte auf Politiker. Er lässt ihn Städte auswendig lernen und Kabinettsmitglieder und bereitet eine Rede für den
anstehenden Parteitag vor. Der nächste Schock lässt allerdings nicht lange auf sich warten, denn durch den Unfall hat der Ministerpräsident nicht nur seinen schwäbischen Dialekt verloren, sondern
hinkt auch noch leicht - zwei Faktoren, die aus Sicht von März für einen Politiker tödlich sind: "März erklärte: Dass das katastrophal sei, ein hinkender Gang. Das Gegenteil von aufrechtem Gang.
Dass Wechselwähler bei einem solchen Anblick sogleich wegschauen oder wegschalten." Politik als Inszenierung.
Joachim Zelter demaskiert in seinem satirischen Roman den politischen Betrieb. Zurück bleibt eine inhaltlose Scheinwelt. Eine Welt, in die sein "Held" Claus Urspring nicht mehr recht zu
passen scheint. Doch März müht sich nach Kräften. Er engagiert eine Redenschneiderin, um über Ursprings Sprachprobleme hinwegzutäuschen, und setzt den Kandidaten auf ein Fahrrad, damit sein
Humpeln nicht auffällt.
Dabei ist der findige Referent selbst nur ein Getriebener. Ihm geht es weniger um das Wohl seines Chefs, sondern einzig und allein "darum, eine Wahl zu gewinnen." Und er erklärt der
verdutzten Redenschneiderin, "dass es in einer Wahl nicht um Ideen gehe. Im Gegenteil. Es gehe um die Abwesenheit von Ideen. Es gehe darum, Ideen glaubwürdig zu verbergen. Oder sie von vornherein
zu vermeiden. Oder sie zumindest so lange zu schleifen, bis sie keinen Schaden mehr anrichten. Darum gehe es."
Parabel auf den medienzentrierten Politikbetrieb
Im Stile eines Wolfgang Koeppen zeichnet Joachim Zelter ein schonungsloses Bild der deutschen Politik. Ging es in Koeppens "Im Glashaus" um die Anfänge der "Bonner Republik", konzentriert
sich Zelter auf die medienzentrierte Politik der heutigen Bundesrepublik. In einer Welt, in der allein Inszenierung und der schöne Schein zählen, verkommt Politik zur Symbolhandlung. Politiker
werden zu Mittelklasseschauspielern.
Joachim Zelter hält dieser Welt einen Spiegel vor. Die Interpretation bleibt dem Leser selbst überlassen. In einfacher, aber eindrücklicher Sprache hat Zelter mit "Der Ministerpräsident"
eine wunderbare Parabel geschrieben, die ihm zu Recht eine Nominierung für den diesjährigen Deutschen Buchpreis eingebracht hat. Zelters "Held" Claus Urspring lässt den Leser mitleiden, mit
hoffen, mit verzweifeln. Am Ende wird er frei sein - und gleichzeitig ein Gefangener in einer Welt, aus der es irgendwann kein Entrinnen mehr gibt.
Joachim Zelter: Der Ministerpräsident, Klöpfer&Meyer 2010, 18,90 Euro, ISBN 978-3-940086-83-9
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