Ist boshaft, wer vermutet, dass für darstellende Künstler mit den Lebensjahren die Lust wächst, eine Figur zu verkörpern, die sich gängigen Alterskategorien entzieht, gewissermaßen alterlos ist? Isabelle Huppert liefert in „Copacabana“ nicht nur in dieser Hinsicht ein grandioses Solo ab.
Vielleicht verspürte die Huppert zwischen all den vergleichsweise schweren Stoffen – Ende September ist sie in Michael Hanekes „Liebe“ im Kino zu erleben – lediglich die Lust, komödiantischer Leichtigkeit zu frönen – wenngleich klar sein dürfte, dass dieser Begriff bei ihr relativ ist?
Was die 59-Jährige dazu bewogen hat, die Hauptrolle in „Copacabana“ zu übernehmen, muss Spekulation bleiben. In jedem Fall bietet ihr neuer Film einen interessanten Kontrast zu einem weiteren Opus der Altersverweigerung, mit dem er auf den ersten Blick einiges teilt: In „My Little Princess“ (2011) spielte Huppert eine kindlich naive Fotografin, die alles und jeden brutalstmöglich ihrem Kunsttrieb unterordnet – nicht zuletzt ihre heranwachsende Tochter.
In „Copacabana“ lässt es Regisseur und Drehbuchautor Marc Fitoussi, was die Konstitution und Interaktion seiner Figuren angeht, weniger komplex angehen, wenngleich gerade Babou (Huppert) alles andere als einfach gestrickt ist. Auch diesmal prägt wieder ein Mutter-Tochter-Konflikt das Geschehen. Doch im Gegensatz zu „My Little Princess“ geht es in Copacabana nicht darum, dass der Paradiesvogel scheitert, sondern obsiegt.
Bar-Freak vs. Unschuld
Mit ihrer Tochter Esméralda (gespielt von Hupperts Tochter Lolita Chammah) teilt sich Babou eine Wohnung in Tourcoing, einer dieser heruntergekommenen früheren Arbeiterstädte im äußersten Norden Frankreichs. Babou liebt kurze Röcke und violette Strumpfhosen. Mit ihren – ebenfalls arbeitslosen und verschuldeten – Freunden verlebt sie verträumte Nächte in der Bar oder lässt sich im Kaufhaus gratis schminken. Sie ist mit sich im Reinen und braucht keine Konventionen.
Esméralda ist das völlige Gegenteil: Als Serviererin ernährt die Biederkeit in Person den gemeinsamen Haushalt. Doch sie will mehr: nämlich Sicherheit. Die verspricht sie sich von ihrer anstehenden Hochzeit, mit der sie ihre Mutter überrumpelt. Die möchte Esméralda ohnehin nicht dabei haben. Was sollen die Schwiegereltern denken?
Babou erlebt diese Ablehnung wohl zum ersten Mal so bewusst. Ein böses Erwachen! Plötzlich wird ihr klar, dass sich Konventionen zumindest dafür eignen, das Konto auszugleichen – und um damit womöglich dass Vertrauen der Tochter zurückzugewinnen.
Ein Job muss her! Und was könnte sie in diesem verfallenen Umfeld anderes finden als eine Superverdienstmöglichkeit bei einer Immobilienfirma im belgischen Ostende – dorthin lockt immerhin die Weite des offenen Meeres. Dort erscheint ihr ewiges Traumziel Brasilien viel näher als zwischen den verwitterten Backsteinblöcken von Tourcoing.
Schnell wächst Babou in die ungewohnte Welt hinein. Weil ihr ohnehin nichts peinlich ist, hat sie kein Problem damit, wildfremde Touristen anzuquatschen, einen Prospekt in die Hand zu drücken und durch hochwertige Ferienappartements zu führen. In dieser Rolle geht die Verwandlungskünstlerin völlig auf. Das kommt bei den Vorgesetzten an, auch weil sie jeden mit ihrer Einbildungskraft begeistert: Könnte das hell erleuchtete Kraftwerk in der Ferne nicht auch ein brasilianischer Partystrand sein?
Der Morgen danach
Nach Feierabend bleibt alles beim Alten: Babou zieht durch die Kneipen, beginnt eine Affäre und nimmt sich eines obdachlosen Pärchens an.
Man ahnt, dass sie bei diesem Spagat irgendwann die Balance verliert. Doch der unvermeidliche Krach mit ihren Vorgesetzten führt dazu, dass sich Babou erst recht voll auf ihre entrückte Intuition verlässt, um vor sich und ihrer Tochter zu bestehen.
Die allzu versöhnliche Auflösung, die sich daran anschließt, mag enttäuschen. Anderseits ist es gerade diese überraschende Wendung, die einen mit der allzu offensichtlich auf die Katastrophe zusteuernden Immobilien-Karriere Babous versöhnt: Schlussendlich bestätigt sie sämtliche Befürchtungen und serviert Esméraldas Schwiegereltern mit einer Samba-Show den Schock ihres Lebens. Doch in diesem Moment steht nichts mehr zwischen Esméralda und Babou: Die ist als Mutter und als Weltenbummlerin, wenn auch unter unerwarteten Vorzeichen, endlich am Ziel.
Familienkomödie? Sozialkomödie? Liebeskomödie? „Copacabana“ ist von all dem ein bisschen und muss mit dem Vorwurf leben, in keiner der Kategorien besondere Tiefe zu erreichen. Was aber keinesfalls bedeutet, dass es dem Film insgesamt an Tiefe mangelt. Zumal, wenn man ihn als Bühne für eine fulminante Einzelleistung Hupperts betrachtet. Innerhalb einer recht leicht verdaulichen Rahmenhandlung kostet sie das Potenzial dieses fast schon visionären und traurigen
Clowns Babou in denkbar vielseitigen Facetten aus, ohne jedes Extrem bis ins Äußerste zu treiben: Wieder einmal triumphiert die trügerische Leichtigkeit des liebenden und leidenden Paradiesvogels.
Info: Copacabana (Frankreich 2010), Buch und Regie: Marc Fitoussi, mit Isabelle Huppert, Lolita Chammah u.a., OmU, 107 Minuten. Ab sofort im Kino