Schriftsteller, bildender Künstler, Familienmensch und homo politicus: Günter Grass, polarisiert und polarisierte wie kein zweiter „Dichterfürst“ die Öffentlichkeit. Heimatvertriebener, Nobelpreisträger, Anhänger Willy Brandts: Auf gut 450 Seiten beschreibt Volker Neuhaus den gebürtigen Danziger Grass, der gleich mit seinem ersten Roman, „Die Blechtrommel“, einen Best- und Longseller produzierte.
Auszeichnungen haben den äußerst produktiven Erzähler sein Leben lang begleitet. Die bedeutendste war sicherlich der Nobelpreis für Literatur, den er 1999 bekommen hat. Der damals 72-Jährige erklärte: „Es ist gut, dass ich erst jetzt, altersgewitzt, den Preis bekomme; als Vierzig- oder Fünfzigjähriger wäre er mir zur Last geworden. – Jetzt will ich mit gestärkter Stimme meine Sache betreiben.“ Doch die Auszeichnung hat auch ihre Kehrseite. In seinem „Sudelbuch“ schreibt Grass: „Seitdem keine Minute am Stehpult. Berge freundlicher, zustimmender Post. Das Telefon blockiert ... Einladungen gehäuft, Schirmherrschaften im Dutzend, Geldwünsche mehr oder weniger begründet.“
Chronologisch aufgebaute Biographie
Neuhaus’ Biographie ist sehr übersichtlich aufgebaut. Einer umfangreichen Einleitung folgen die Kapitel über Herkunft, Kindheit und Jugend (notwendiges Stichwort in diesem Zusammenhang: die Waffen-SS), gefolgt von Abschnitten über die ersten Nachkriegsjahre, die Zeiten in Berlin (1953 bis 1956), in Paris (1956 bis 1960) und wieder Berlin (1960 bis 1972).
Einem Exkurs über den Grafiker Grass folgen die weiteren Jahrzehnte. In diese Zeit gehören die Abschiede von Freunden. Heinrich Böll, Walter Höllerer, Peter Rühmkorf, Christa Wolf und der Übersetzer und Lektor Helmut Frielinghaus versterben. Grass’ viel beachtete Erinnerungen „Beim Häuten der Zwiebel“, „Die Box. Dunkelkammergeschichten“ und „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung“ fallen in die bislang letzten Jahre.
Der Herausgeber als Biograph
Der Autor der Biographie, Volker Neuhaus, ist in mehrfacher Hinsicht vom Fach: Von 1977 bis 2008 Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln, hat er seit Beginn der 1970er zahlreiche Studien zu Grass verfasst. Von 1987 an war er für zwei Jahrzehnte Herausgeber aller Gesamtausgaben des streitbaren Literaten.
Neuhaus’ Seitenhiebe gegen Richard von Weizsäcker und Erich Kästner sind etwas deplatziert und kurzschlüssig. Dass er gegen üble und unschöne Grass-Verrisse von Henrik M. Broder („Krawallschachtel vom Dienst“), Stephan Maus oder des Germanisten Gumbrecht antritt, macht ihn dagegen wieder sympathisch.
Teil des Buches sind eine Reihe von Fotos, etwa des Elternhauses von Grass oder der Titelbilder des Buches „Katz und Maus“ beziehungsweise der viel gelesenen Fischer-Taschenbuch-Ausgabe der „Blechtrommel“. Dass keine Seite übrig war für einen kurzen Lebenslauf, den man stattdessen bei Wikipedia nachschlagen muss, ist schade. Vielleicht steht bald eine zweite Auflage an, ergänzt um einen tabellarischen Lebenslauf und eine Liste der Hauptwerke. Denn insgesamt ist das Buch empfehlenswert.
Volker Neuhaus: „Günter Grass. Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse: Eine Biographie“. Steidl, Göttingen 2012, 463 Seiten, 19,80 Euro. ISBN 978-3-86930-516-5
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.