Der neue Film „Austerlitz“: Selfies im KZ inklusive
Alles wirkt wie ein schöner Sommertag im Park: Junge Eltern in kurzen Hosen schlendern mit ihrem Kinderwagen eine Allee entlang. Andere Flaneure, ebenfalls in sehr luftiger und bequemer Kleidung, machen es sich abseits des Menschenstroms auf einer Bank gemütlich oder schieben ihren Schoßhund in der Karre. Nach sieben Minuten lüftet der ukrainische Regisseur und Drehbuchautor Sergei Loznitsa das Geheimnis, wo wir hier eigentlich sind: mitten im Grünen, allerdings im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen. Zu erkennen an dem eisernen Schriftzug im Tor: „Arbeit macht frei“. Die Gedenkstätte wenige Kilometer nördlich von Berlin ist einer von zwei Schauplätzen dieser Dokumentation, die der Frage nachgeht: Wie ist Erinnerung möglich, wenn Gedenkstätten zu Stätten des Massentourismus geworden sind?
Was ist in einer KZ-Gedenkstätte angemessen?
Die Frage, welches Verhalten an den Erinnerungsorten für Nazi-Opfer angemessen ist, ist nicht neu. Man denke nur an die jahrelange Debatte über strengere Vorschriften auf dem Gelände des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Zehn Jahre später stört sich kaum noch jemand an Kindern, die von Stele zu Stele hüpfen oder an Touristen, die sich auf den Quadern ausruhen. Es ist auch eine Frage des Zeitgeistes: Dass Gedenkstätten und Denkmäler zunehmend auf die Bedürfnisse der Besucher – Mitmach-, Erlebnis- und Komfortangebote inklusive – zugeschnitten sind, ist Normalität. Anders wäre es wohl kaum möglich, jährlich Hunderttausende oder mehr dorthin zu locken, zum Teil mit steigender Tendenz.
Die KZ-Gedenkstätten in Dachau (rund 800.000 Besucher) und Sachsenhausen (700.000) sind die besucherstärksten Schreckensorte in Deutschland und werden längst auf Tourismusportalen gelistet, viele verbinden einen Besuch mit ihrer Reise nach München beziehungsweise Berlin. Loznitsa hat an weitaus mehr deutschen Erinnerungsorten gedreht, doch für den Film – der Titel ist an W.G. Sebalds letzten Roman über einen jüdischen Wissenschaftler, der sein Leben erforscht, angelehnt – entschied er sich für Szenen von jenen beiden Hotspots.
Lange Einstellungen auf die Besucher
Was heißt Szenen? In langen statischen Einstellungen hält die Kamera auf die Besucher, die in langen Kolonnen über das Lagergelände ziehen. Man kennt diese Methode aus Loznitsas Arbeit über die Massenproteste vor gut drei Jahren in Kiew („Maidan“). Anfangs sieht man die Menschen aus weiter Entfernung. Doch mit der Zeit kommen wir den Gästen und ihren Guides immer näher. Was geht in ihnen vor, wenn sie die Foltermethoden der SS erklärt bekommen oder zur Hinrichtungsstätte geführt werden?
Man kann es nur erahnen, denn Interviews gibt es nicht. Loznitsa glaubt, in den Bildern selbst die Wahrheit zu erkennen. Manchmal fällt das leicht: Etwa, wenn sich Besucher vor der Nazi-Parole „Arbeit macht frei“ für ein Selfie aufstellen oder an einem der Pfähle, an denen Häftlinge an ihren auf dem Rücken gefesselten Armen aufgehängt wurden, die Pose eines Gefolterten imitieren – natürlich für ein Foto, das wenige Augenblicke später im Netz steht. Viele scheinen den Ort ohnehin nur durch Objektiv und Linse zu erfassen.
Touristen als graue Masse
Doch das sind noch die krassesten Beispiele. Überwiegend erscheinen die Besucher als graue Masse, wozu auch die Drehweise in Schwarzweiß beiträgt. Wie ein Kollektiv, das, angeleitet durch Audioguide und Besucherführer, scheinbar teilnahmslos durch Baracken und zwischen Mauern umher schlurft. Die meisten scheinen die Kamera gar nicht zu bemerken. Wie denn auch, wenn ständig und überall Smartphones und Kameras gezückt werden, um das Gesehene einzufangen.
Gerne wüsste man, ob diese Menschen an ein kühles Getränk denken oder sich tatsächlich mit dem beschäftigen, was sich vor mehr als 70 Jahren dort abgespielt hat. Da fast keiner von ihnen länger im Bild ist, lässt Loznitsa kaum Möglichkeiten, in ihnen Individualität zu erkennen. Das mag einen dazu ermuntern, daran zu denken, wie man sich selbst beim letzten Gedenkstätten-Besuch aufgeführt hat oder dies bei einem Abstecher dorthin tun würde.
Eine touristische Fabrik der Moderne
Warum die Besucher derlei Orte aufsuchen, wie sie damit umgehen und ob sie sich, wie Loznitsa behauptet, dabei wirklich grundlegend anders verhalten als vor 30 Jahren, scheint mitunter denkbar, bleibt aber Spekulation. Loznitsa hat sein Urteil in einem Interview längst gefällt: „Die Lager und die Idee der industriellen Vernichtung haben eine direkte Verbindung zur industriellen Welt, zum Kapitalismus. Heute ist es zu einer touristischen Fabrik geworden.“
Jetzt im Kino: „Austerlitz“ (Deutschland 2016), ein Film von Sergei Loznitsa, 94 Minuten.