Der Humor lebt weiter
Sie mag zynisch klingen und doch stellt sich die Frage: Waren die Toten der islamistischen Terroranschläge von Paris vom Januar 2015 umsonst? Nach den Attentaten auf „Charlie Hebdo“, einen koscheren Supermarkt und eine Polizistin gingen vier Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße, angeblich so viele wie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie beschworen Werte wie Toleranz und Meinungsfreiheit, die in den Jahren zuvor in Vergessenheit geraten waren. Wenige Monate danach erlebte das Land eine Welle von islamfeindlichen Attacken. Die „Je suis Charlie“-Rufe waren längst vergessen. Im Herbst brach der islamistische Terror erneut los. Anstatt den Geist der Republik zu beschwören, grub die Regierung das Kriegsbeil aus. Und der rechtsextreme Front National triumphierte.
Zeichnen ohne Denkverbote
„Es war, als wäre Frankreich aus einem langen Schlaf erwacht“, sagen die beiden Dokumentarfilmer Daniel und Emmanuel Leconte in ihrem Film „Je suis Charlie“, der nun, ein Jahr nach den Anschlägen, ins Kino kommt, über jene Tage im Januar – für sie war es ihr 11. September. Die Dokumentation setzt den zwölf Mitarbeitern von „Charlie Hebdo“, die zwei Attentäter mit Maschinenpistolen während einer Redaktionskonferenz hinrichteten, ein Denkmal. Eben, weil sie unbeirrbar an ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung festhielten, auch um den Preis heftiger Reaktionen.
In Archivaufnahmen erklären der frühere Herausgeber und Zeichner „Charb“ und weitere prominente Karikaturisten wie „Cabu“ oder „Tignous“, warum sie immer wieder zur spitzen Feder griffen und für Diskussionsstoff sorgten. Ihnen ging es nicht darum, andere gezielt zu verletzen, sondern eine Kunst und einen Diskurs frei von ästhetischen oder inhaltlichen Schranken zu pflegen. Daran hielten sie auch nach einem Brandanschlag und einem Prozess fest, den französische Islamverbände gegen das Blatt angestrengt hatten, nachdem darin Mohammed-Karikaturen erschienen waren.
Spaß beim Karaokesingen
Das Gericht entschied im Sinne der Meinungsfreiheit, doch der Film macht deutlich, wie einsam es um das seinerzeit in Deutschland weithin unbekannte Magazin geworden war. Aus jener Zeit stammen die Interviewsequenzen mit den später Getöteten. Vater und Sohn Leconte verarbeiteten die Ereignisse von vor gut acht Jahren in der Dokumentation „Es ist hart, von Trotteln geliebt zu werden“.
Vor dem Hintergrund dessen, was da kam, haben die lakonisch vorgetragenen Äußerungen der Star-Karikaturisten über die Intentionen und Grenzen von Satire fast etwas Tragisches, wenngleich spätere Vorwürfe in manchen französischen Zeitungen, Charb und Co. hätten ihr eigenes Todesurteil gesprochen, mindestens absurd sind. Ob all der Momente einer Hommage – immer wieder hält die Kamera auf die Demonstrationszüge auf der Place de la République – werden die Terroropfer angenehmerweise nicht zu Heiligen stilisiert. Vielmehr zeigen die Lecontes auch deren humorvolle und lebenslustige Facetten, und sei es beim Karaokesingen.
Blanker Horror in der Redaktion
„Wir wollten sie lebendig zeigen“, sagen die beiden Filmemacher. Deren große Nähe zu den Satirikern ist stets spürbar. Sie bildete einen wichtigen Vertrauensvorschuss für die Aufgabe, der sie sich wenige Wochen nach den Anschlägen stellten: Gemeinsam mit den Überlebenden das Geschehen aufzuarbeiten. Es sind unfassbare Details eines monströsen Ganzen: In den Erzählungen der Cartoonistin „Coco“ und des Geschäftsführers Eric Portheault wird beides konkret. Eine Kalaschnikow der Brüder Chérif und Said Kouachi im Nacken, öffnete Coco ihnen die Tür zur Redaktion. Portheault überlebte unter seinem Schreibtisch.
Beider Erzählungen werden in langen Einstellungen wiedergegeben, wodurch der Eindruck einer Therapiesitzung entsteht. Vielleicht war es gerade das: Wie losgelöst kommen blanker Horror, aber auch Gedanken über Schuldgefühle und das Weitermachen zur Sprache. Letzteres begleitet der Film während der Szenen im Büro der Zeitung Libération, wo das verbliebene Team die erste Ausgabe nach der Attacke unter größten Anstrengungen fertigstellte. Heute arbeiten Coco und die anderen an geheimem Ort.
Ein aufwühlendes Porträt
Mitunter erschlägt einen die Wucht des Gezeigten – und auch des nicht Gezeigten, gerade im Hinblick auf die Nachgeschichte des Blutbads, die mit dem Wissen von heute stets mitschwingt. Gleichzeitig macht der Film aber auch immer wieder Mut, sich nicht einschüchtern zu lassen und keine Feindbilder aufzubauen. Wohl auch, um das Erbe der Getöteten zu bewahren, selbst wenn diese eine derartige Weihe wohl von sich gewiesen hätten. „Wenn kein Journalist mehr seinen Teil des Risikos auf sich nimmt“, sagt die Philosophin Elisabeth Badinter im Film, „dann haben die Barbaren gewonnen“.
Man hätte sich gewünscht, die Lecontes hätten den Blick geweitet und die Umbrüche in der französischen Gesellschaft und der Redaktion von „Charlie Hebdo“ nach dem Januar 2015 in den Blick genommen. Angesichts der emotionalen Motivation für die Dreharbeiten und des rasanten Produktionstempos – der Film lief vergangenen Sommer in Cannes – ist ihnen allerdings ein ebenso subtil erzähltes wie aufwühlendes Porträt gelungen.
Info: Je suis Charlie (Frankreich 2015), ein Film von Daniel und Emmanuel Leconte, mit Charb, Tignous, Coco, Elisabeth Badinter, Eric Portheault u.a. 90 Minuten, OmU
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