Kultur

Der andere Wilhelm Raabe

von Die Redaktion · 18. Januar 2007

Die geistige Entwicklung des 19. Jahrhunderts war wesentlich mit dem Fehlschlagen der Revolution von 1848 verbunden. Die nachfolgende literarische Epoche ist gekennzeichnet vom Realismus, in Nuancen auch als "poetischer Realismus" bezeichnet. Zu einem seiner markantesten Vertreter wurde Wilhelm Raabe (1831-1910).

Im Kontext detaillierter Lebensdarstellungen, psychologischer, sozialer und gesellschaftlicher Prämissen, lässt Werner Fuld den Leser überraschende neue Einsichten in das Leben und Werk Wilhelm Raabes gewinnen. Er Werner Fuld entwirft ein umfangreiches und differenziertes Psychogramm des Literaten.

Trostlose Kindheit

Es wird Wilhelm Raabes mehr oder weniger trostlose Kindheit in Wolfenbüttel beschrieben. Dominant sind der ungeliebte Vater und die beiden strengen Onkel. Zuflucht und Geborgenheit findet er nur bei der Mutter. In der Schule, für Raabe ein "Schulgefängnis", erfährt er Zurückstufungen und gilt als Versager. Er fühlt sich ungerecht behandelt, ein Grundgefühl, das seine Psyche sehr lange bestimmen wird. In seiner Lehre als Buchhändler findet er früh Trost in Büchern und entwickelt eine unbändige Lesewut. So liest er zum Beispiel Romane von Balzac, Walter Scott und Thackeray.

Früh schon entwickelt Raabe eine Begabung, sich Stoffe und Materialien geistig aufzubewahren, um sie für die spätere eigene literarische Produktion nutzbar zu machen. Eine Methode, von der Werner Fuld sagt, dass sie mit der Arno Schmidts vergleichbar ist und sich bei Wilhelm Raabe Ansätze zur Literatur der Moderne finden, wenn er nicht nur aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens schreibt, sondern immer wieder Zitate aus anderen Werken der Weltliteratur transformiert.

Erstlingswerk

Nach seinem gescheiterten Abiturversuch flieht Raabe nach Berlin, um als Gasthörer an der Universität einen akademischen Abschluss zu erreichen. Doch er wusste, dass er auch hier als Versager zurückkommen wird. Aber sein fester Wille, Schriftsteller zu werden, bleibt ungebrochen. Die Arbeiten an der Chronik beginnen und sie fallen zusammen mit der psychosozialen Selbstbestimmung Raabes. Auch waren diese Arbeiten, wie er später mehrfach betonte, für ihn eine Art selbsttherapeutischer Befreiung.

Sein Erstlingswerk, "Die Chronik der Sperlingsgasse" wurde ein Erfolg und bekam gute Kritiken, auch wenn es sich nicht verkaufte. Viele Intellektuelle sahen in diesem Buch ihre politischen Ideale bewahrt. Und bis zu Raabes Tod 1910 wurde eine Auflage von 70 000 Exemplaren erreicht.

Schriftsteller-Leben

In Wolfenbüttel begann nun Raabes Leben als Schriftsteller mit einem gestärkten Selbstbewusstsein. Der einstige "Versager" fand genugtuende gesellschaftliche Anerkennung.Werner Fuld zeigt auch, dass Wilhelm Raabe nicht nur der Verfasser idyllischer Erzählungen war. In seinem Werk finden sich viele sozialkritische Aspekte, die ebenso die Nachtseiten des Lebens schildern und literarisch die moderne Höhe Baudelaires erreichen.

Wilhelm Raabe führte 53 Jahre lang Tagebücher. Wenn sie auch keine Reflexionen über das eigene Werk enthalten, so geben sie doch Auskunft über Raabes alltägliche Befindlichkeiten.

In Stuttgart folgen nach glücklichen Zeiten auch Schaffenskrisen, wieder gefundene Meisterschaft und später Ruhm. Doch immer bewegt sich sein Leben im selbst erkannten Dilemma: als Literat nicht arbeiten, als Dichter nicht leben zu können. Die seinerzeit vorherrschende Lesekultur und die konventionellen Lesererwartungen forderten immer wieder ihren Tribut.

Wilhelm Raabe hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das wiederzuentdecken sich lohnt, auch wenn es so scheint, als wäre er ein vergessener Dichter. Ein lange verkannter Dichter war er bestimmt.

Werner Fuld zeigt in seinem Buch ein völlig anderes Bild von Wilhelm Raabe. Sein Leben und Werk wird von Fehlinterpretationen befreit, die Legende eines Humoristen, der in sich selbst ruht, zerstört.

Dieter Köppe

Werner Fuld: Wilhelm Raabe. Eine Biographie, Deutscher Taschenbuchverlag, München 2006, 382 Seiten, 15 Euro, ISBN 3-423-3424-9

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