Kultur

Den Opfern eine Stimme geben

von Die Redaktion · 3. Januar 2007

Von Felix Wiedemann

Jeder Historiker, der über den nationalsozialistische Mord an den europäischen Juden schreibt, sieht sich zwangsläufig mit den Grenzen der eigenen Wissenschaft konfrontiert, entzieht sich doch dieses Menschheitsverbrechen den ansonsten so probaten Versuchen des 'Erklärens' oder 'Verstehens'.

In vielen jüngeren Detailstudien wird das Problem dadurch umgangen, dass sich die Autoren auf Einzelaspekte konzentrieren: Auf die keineswegs gradlinigen Wege des Übergangs von Verfolgung und Vertreibung zur totalen Vernichtung, das Zusammenspiel einer sich immer weiter radikalisierenden lokalen Mordpraxis und den Direktiven der Berliner NS-Führung oder aber die Rolle konkurrierender Interessengruppen, die von Ausbeutung und Mord der jüdischen Bevölkerung profitierten. Damit verbunden ist eine namentlich in der deutschen NS-Forschung evidente Fokussierung auf die Täter.

Integrative und integrierte Geschichte

Saul Friedländer hingegen geht einen anderen Weg: Er präsentiert die Shoah als komplexes Gesamtgeschehen und wendet sich gegen eine scheinbar objektive Geschichtsschreibung, die schon ihrer Täterfokussierung wegen, diese "Totalität" niemals erfassen kann und beständig Gefahr läuft, vom Leid der Opfer zu abstrahieren oder das Unbegreifliche des Geschehens zu rationalisieren.

Friedländers "integrative und integrierte Geschichte" zeichnet sich demgegenüber durch einen komplexen multiperspektivischen Ansatz aus, der die Geschichte der Opfer mit der der Täter, ihrer Helfer und Mitläufer verbindet. Die Meisterhaftigkeit seiner Darstellung zeigt sich vor allem in Auswahl und Kombination von Zitaten aus der Unmenge von Quellen der Täter (Aktenmaterial, Propagandareden, Frontberichte etc.) und der Opfer (Briefe, Tagebücher, Ghettochroniken etc.). Auf diese Weise entreißt er die Opfer aus ihrer Anonymität und gibt ihnen eine Stimme.

Fokus auf Individuen

Souverän wechselt er zwischen verschiedenen Ländern und Orten, zwischen Makro- und Mikroebene, d.h. den Entscheidungen zur 'Judenfrage' auf der Führungsebene und ihren mörderischen Konsequenzen für die einzelnen Menschen. So montiert er Diskussionen der Berliner NS-Führung, Berichte ausführender Schergen vor Ort (über Razzien in Westeuropa, Massenerschießungen in der besetzten Sowjetunion oder die Vernichtungslager in Polen) und Feldpostbriefe deutscher Frontsoldaten mit Tagebucheintragungen der Ermordeten oder Erinnerungen Überlebender.

Durch die Vielzahl an beklemmenden individuellen Zeugnissen, die der Autor integriert, gelingt es ihm eindurcksvoll, einer Abstraktion zu entgehen, ohne jemals die "Totalität" des Gesamtgeschehens aus den Augen zu verlieren.

Gesamteuropäische Dimension

Friedländer verflechtet seine Darstellung mit Ausführungen zu Tradition und Geschichte der Juden in den einzelnen Ländern, die nach und nach in die Vernichtungsaktion einbezogen wurden, und zeigt die Pluralität des europäischen Judentums der 1930er und 1940er Jahre auf (so als gelte es, der antisemitischen Wahnvorstellung eines homogen agierenden 'Weltjudentums' nachträglich den Boden zu entziehen).

Ebenso souverän schildert er die unterschiedlich verankerten Traditionen des Antisemitismus in den europäischen Gesellschaften sowie deren Bedeutung in den politischen Konflikten der Zeit. Vor diesen diesem Hintergrund muss schließlich die verbreitete Kollaboration in den einzelnen Ländern gesehen werden, ohne die die Ausführung der deutschen Vernichtungspolitik nicht möglich gewesen wäre (Rumänien oder das kroatische Ustascha-Regime etwa ermordeten die in ihren Ländern ansässigen Juden schließlich weitgehend in eigener Regie). Der Autor lässt freilich keinen Zweifel am übergeordneten Zusammenhang des Geschehens und an der Tatsache, dass Deutschland stets entscheidender Akteur des Judenmords war.

Erlösungsantisemitismus

Als von der NS-Führung zentral gesteuertes Gesamtprojekt ist das gigantische Vernichtungsprogramm der Shoah für Friedländer nur vor dem Hintergrund ideologischer Motive verständlich. Entsprechend hebt er Bedeutung und Spezifität des nationalsozialistischen oder völkischen Antisemitismus hervor. Er greift dabei auf den treffenden Begriff des "Erlösungsantisemitismus" zurück, den er selbst in dem 1997 erschienenen ersten Band über "Die Jahre der Verfolgung 1933-1939" geprägt hat.

Während andere Autoren vor allem auf den scheinbar wissenschaftlich begründeten biologischen Charakter des NS-Antisemitismus abheben, gelingt es ihm mit diesem Begriff, die religiöse, geradezu eschatologische Dimension des Judenhasses führender Nationalsozialisten zu erfassen: 'Der Jude' fungierte in NS-Weltanschauung nicht nur als vermeintlich biologischer Schädling, sondern als metahistorischer Widersacher, d.h. als absoluter Ge-genpol zum 'Arier', ja zur Ordnung des Kosmos schlechthin.



Juden als kosmischer "Weltfeind"


Friedländer zeigt, wie sich diese Vorstellung gerade bei Hitler selbst während des für Deutschland zunehmend ungünstigeren Kriegsverlaufes verdichtete und schließlich in der Überzeugung mündete, die feindlichen Mächte würden durch den kosmischen "Weltfeind", d.h. das imaginäre Weltjudentum, gesteuert, gegen das es nun umso entschlossener vorzugehen gelte.

Dass derartige Wahnvorstellungen auch über ideologisch geschulte Zirkel hinaus immer breitere Kreise zogen, bezeugen die vielfach zitierten Briefe einfacher Frontsoldaten, die Zeuge der Massenmorde wurden (bzw. sich an diesen beteiligten) oder die Verlautbarungen 'gewöhnlicher Deutscher' an der so genannten Heimatfront.

Raum für Schrecken und Fassungslosigkeit

Mit der Betonung der ideologischen Motivation wendet sich der Autor nachhaltig - und überzeugend - gegen Versuche, die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung der Juden als bloße Folge anderer Zielsetzungen oder durch scheinbar zweckrationale, zumeist ökonomische Motive erklären zu wollen (wie etwa durch den Berliner Historiker Götz Aly).

Dabei will auch Friedländer seine Darstellung der Shoah als ideologisch motiviertes Gesamtverbrechen keineswegs als hinreichende 'Erklärung' verstanden wissen: Denn anders als andere Studien zum Thema lässt diese eindringliche und erschütternd zu lesende Darstellung stets Raum für die Fassungslosigkeit und den Schrecken des Autors (und Lesers) angesichts des Geschilderten und versucht nicht, diese zu bannen und das Unbegreifliche zu rationalisieren. Vor allem darin aber zeigt sich die herausragende Qualität des Buches.

Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945, C.H. Beck Verlag, München 2006, 869 S., 34,90

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