Pünktlich vor der Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunkt Türkei präsentierte Betül Licht ihr neues Buch in Berlin. Migration und Integration stellen die deutsche Politik immer wieder vor
neue Herausforderungen. Das Buch leistet in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag der eher ungewöhnlichen Art. Es mahnt mehr Verständnis, Einfühlungsvermögen und Aufmerksamkeit für
Migranten und deren Kulturen an.
"Wenn es eine Hölle gibt, dann habe ich in jener Zeit die Hölle erlebt"
Mit der Entscheidung nach Deutschland zu gehen, ändert sich das Leben für Fatmas Familie grundlegend. "Nur fünf Jahre" sollen es werden, doch es wird ein ganzes Leben. Die Eltern gehen
zunächst allein nach Deutschland und lassen ihre Kinder in der Türkei. Die achtjährige Fatma und ihre Geschwister müssen ihr Zuhause am Schwarzen Meer verlassen und nach Istanbul zu ihrer
Großmutter übersiedeln. Dort beginnt Fatmas Martyrium. Die Großmutter wird immer strenger und scheut keine Gewalt. Alle Hoffnung des Mädchens richtet sich auf das erträumte Wiedersehen mit den
Eltern. Doch es vergehen zwei Jahre, bis diese ihre Kinder zu sich nach Hamburg nachholen können.
Endlich ist der lang ersehnte Zeitpunkt gekommen. Umso größer ist die Enttäuschung: Mit dem Land haben sich auch die Eltern verändert. Fatmas Leiden und Not brechen auch in der Deutschland
nicht ab. Von der eigenen Familie misshandelt und orientierungslos im fremden Land flüchtet sie sich in imaginäre Geschichten. In ihrer seelischen Not vertraut sie sich einem Tagebuch an.
Viele Jahre müssen vergehen, ehe Fatma in der Lage ist, über ihre Erlebnisse zu berichten. Unter der Bedingung, nie über den Inhalt der Briefe sprechen zu müssen, schildert sie darin einer
Freundin ihre Leidensgeschichte.
Kein Einzelfall
Die Idee zu solchem Buch hatte Betül Licht seit ihrer Arbeit in einem sozialpsychiatrischen Beratungszentrum in Hamburg. Es kämen viele Mädchen und Frauen in ihrer Not zur Beratung. Sie
erzählten von familiärer Gewalt und sexuellen Missbrauch; manchmal lägen diese Erlebnisse schon viele Jahre zurück. Bislang sei dieses Thema jedoch in der türkischen Gemeinde hier in Deutschland
ein absolutes Tabu. Fatmas Schicksal sei eben kein Einzelfall, es gäbe türkische Frauen mit ähnlichen Geschichten und Lebensläufen, so Betül Licht.
Ein großes Anliegen der Autorin ist es, die Aufmerksamkeit auf die damals auf der Suche nach Arbeit von ihren Eltern in der Türkei zurückgelassenen Kinder zu lenken. Allein schon die
Trennung stellte für die meisten ein traumatisches Erlebnis dar. Das Buch solle eine Brücke zu den Eltern schlagen, in dem es auf die Ursachen und Auswirkungen aufmerksam macht.
Zerrissenheit und die Suche nach den eigenen Wurzeln hindert viele Migranten daran, in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Betül Licht weist darauf hin, dass schon in den 60er Jahren
vieles in Sachen Integration versäumt wurde: zum Beispiel das notwendige Erlernen der deutschen Sprache. Die Folgen wären Vorurteile auf deutscher und Fremdsein auf türkischer Seite, so die
Autorin. Obwohl sie schon sehr lange in Deutschland lebe, verspüre auch sie eine Dauersehnsucht nach der Türkei und ihrer Familie, gibt Betül Licht zu.
Scham und innere Flucht
Trennungserfahrung ist ein übergreifendes Erlebnis fast aller Migrantenkinder der so genannten ersten Generation. "In meiner Not rieft ich die Eule" möchte diesen Kindern eine Stimme geben
und auf ihr Schicksal hinweisen.
Die seelische Not, die Fatma durchleidet, kann sie nur in Form von Briefen an ihre Freundin mitteilen. Diese sind Umwege zur Wahrheit. Das tabuisierte Thema Gewalt innerhalb der türkischen
Gemeinde lässt nur diesen indirekten Weg der Kommunikation zu. Scham und Angst dominieren auch Fatma, die ihre Freundin mit einem Sprechverbot über den Briefinhalt belegt. Dieses
Nicht-Aussprechen-Können lässt Schmerz und Heimatlosigkeit von einer Generation zur nächsten übergehen.
Das Buch verdeutlicht das Schicksal einer Generation auf eine sehr ergreifende Weise. Die kindliche Perspektive verhindert, dass das Buch zu einer Anklageschrift wird. Es spricht Bereiche
an, die bislang außer Acht geblieben sind: beispielsweise das Verhältnis der Geschwister untereinander. Was passiert mit Fatmas Bruder, der auf seine kleine Schwester, die langsam zur Frau reift,
aufpassen muss? Das junge Mädchen stellt eine Gefahr für die Familienehre dar, weil sie ihre Jungfräulichkeit verlieren kann. Der Bruder wird zum Tyrannen für seine Schwester. Beide werden in
ihre Rolle gepresst, ohne es zu wollen, geschweige denn zu verstehen.
Betül Licht wurde 1955 in der Türkei geboren. Sie kann Fatmas Geschichte sehr gut nachempfinden. 1965 kam sie mit ihren Eltern nach Deutschland. Schon früh befasste sie sich aufgrund der
Kulturunterschiede mit dem Thema Migration. Mit ihrem Buch möchte sie das Schweigen durchbrechen und die Herzen für die Schicksale öffnen. Denn Fatmas Geschichte steht exemplarisch für die
Situation, in der sich viele Migranten befinden: zwischen den Welten und immer auf der Suche nach den eigenen Wurzeln.
Betül Licht: In meiner Not rief ich die Eule, Eine junge Türkin in Deutschland, Hoffmann und Campe 2008, 253 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3455500899
0
Kommentare
Noch keine Kommentare