Bärte, Burkas und Granaten: Jeder hat die üblichen Bilder von Afghanistan im Kopf. Der Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ zeigt mehr als das: Überraschende und intime – und überraschend intime – Porträts von einer Jugend ohne Illusionen. Für eine offene Gesellschaft riskiert sie ihr Leben.
Kunduz, das traurige Symbol einer sogenannten Stabilität auf Panzern: „Sie kamen nachts und sagten, es gebe Benzin, erinnert sich ein alter Mann an den 4. September 2009. „Dabei hätten sie keines gebraucht. " Dennoch zwangen sie die jungen Leute mitzugehen. Um zwei Uhr hört man den Knall: NATO-Jets bombardieren zwei von Taliban entführte Tanklastzüge. Wenig später trauern die Menschen in Kunduz um rund 140 Tote und Verletzte. Warum ein deutscher Oberst die Attacke unter Angabe falscher Informationen anforderte, weiß kein Mensch. Hinterbliebene, die Aufklärung einklagen, scheitern vor deutschen Gerichten.
Verzweiflung, Enttäuschung und Ohnmacht prägen auch die Begegnungen von Regisseur Martin Gerner mit den Menschen von Kunduz. „Die Ausländer haben das Sagen“, erklärt einer – sei es nur deren Gewohnheit, mit Panzerfahrzeugen alles und jeden von der Straße zu putzen. Und doch bieten die Bekenntnisse dieser Afghanen weit mehr als die Reflexion über ihr desillusionierendes Leben. Gerade die Hoffnungen in die Verwirklichung ihrer Visionen machen diesen Film so beklemmend: Die Ideen wirken vertraut, doch die Bedingungen dafür könnten kaum miserabler sein – andererseits öffnet sich immer wieder ein Türchen. Zwischen diesen Polen bewegt sich „Generation Kunduz“.
Gespielte Gewalt
„Wer hier Fortschritte machen will, muss der Kunst Raum geben“, sagt Ghulam. Er ist das Gegenteil von vielem, was man heute mit Afghanistan verbindet. Ghulam und seine Mitstreiterin Khatera drehen gerade ihren ersten Spielfilm, das Liebes-Drama „Sami und Sadaf“. In einem rosa Glitzer-Hemd, knallenger weißer Hose und Gel-Frisur scheucht er die Schauspieler herum, um einen Meuchelmord à la Bollywood zu proben – mit einer Videokamera, mitten in den Gassen von Kunduz und unter den misstrauischen Augen der Einheimischen.
In seiner Heimatstadt sei man daran gescheitert, eine weibliche Hauptdarstellerin zu finden – Filme gelten vielen als Schande, so Ghulam. Dennoch scheint die Motivation des Teams unverwüstlich. Wahlhelfer Hasib erklärt hingegen: „Wer in Afghanistan etwas bewegen will, wird noch am gleichen Tag erschossen.“
Ob Künstler, Journalistin, Familienoberhaupt oder Schulkind: Die Offenherzigkeit der Gesprächspartner erstaunt. Sie ist vor allem dem vertrauten Verhältnis zwischen den Protagonisten und dem Filmteam zu verdanken: Seit mehr als zehn Jahren ist Gerner am Hindukusch unterwegs, zunächst als Journalist, später auch als Ausbilder für afghanische Kolleginnen und Kollegen. Ohne jegliche militärische Begleitung bereiste er mit seiner Crew die Region Kunduz bereits lange Zeit vor dem September 2009. Weil die Mannschaft zudem mit den landestypischen Sprachen vertraut und zu großen Teilen afghanisch besetzt war, hielten sich die Barrieren in Grenzen.
Sinnliches Kriegsgebiet
Ein Entwicklungshelfer in Sachen Medienfreiheit als Dokumentarfilmer, gewissermaßen in eigener Sache: Geht das gut? „Generation Kunduz“ vermeidet jegliche bedenkliche Tendenz, die diese Konstellation birgt. Gerners Bilder von diesem schaurig-schönen Kunduz berühren durch spröde Poesie, weniger durch Pathos. Der Film spielt mit vertrauten Motiven und Erwartungen, um sie in der nächsten Einstellung zu brechen und uns zum Denken anzuregen. Es ist eine zutiefst sinnliche und geistig bewegliche Momentaufnahme, anstatt den Anspruch einer moralisch überhöhten Diagnose mit Ausblick zu erheben.
Dieser offene Blick auf ein Land, das viele bereits abgeschrieben haben, führt immer wieder die Bedeutung von jedem kleinen Erfolg beim Kampf mit überkommenen Tabus vor Augen – und nicht minder die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. Radiomoderatorin und Burka-Trägerin Nazanin kämpft gegen die Unterdrückung von Frauen, indem sie ihnen am Hörertelefon ein Forum bietet. In ihrer Freizeit besucht sie – von Männern geleitete – Aufklärungsveranstaltungen zur Gleichberechtigung. Gerade in dieser couragierten Journalistin spiegeln sich die Hoffnungen ihrer Generation wider, es ist gerade dieser Lebensweg, der neugierig macht. Eines Tages sagt sie alle weiteren Treffen mit dem Filmteam ab – aus Angst, wie sie sagt, ihrem Verlobten Schande zu bereiten.
Dennoch bleibt vor allem das Selbstvertrauen jener Generation haften, die eines Tages den Platz der Alten einnehmen wird. „Ich möchte Arzt, Ingenieur oder Lehrer werden“, sagt der 10-jährige Mirwais, Schuljunge und Schuhputzer, mit dem entschlossenen Blick eines Erwachsenen. „Hauptsache raus aus diesem traurigen Leben.“
Info:
Generation Kunduz – Der Krieg der Anderen (Deutschland 2011), Buch und Regie: Martin Gerner, Sprache: Dari/ Pashtu, Untertitel: Deutsch/ Englisch, 80 Minuten.www.generation-kunduz.de
Kinostart: 15. März