„Dann ist da diese andere europäische, große Idee, die wir Sozialdemokratie nennen“
Katja Kullmanns Buch „Rasende Ruinen“ handelt von ihren Begegnungen mit den Bewohnern der US-Stadt Detroit. Im Interview erklärt sie, warum Detroit nicht das neue Berlin ist und wie ihre Reise sie zur „Sozialliberalen“ gemacht hat – mit Betonung auf „sozial“.
vorwärts.de: Frau Kullmann, in Ihrem neuen Buch porträtieren Sie die Stadt Detroit und ihre Bewohner. Wieso haben Sie sich ausgerechnet für Detroit entschieden, eine Stadt die für Niedergang und Verfall steht wie kaum eine andere Metropole in den USA?
Katja Kullmann: Zunächst war es jahrelang ein privater Traum, einmal an diesen Ort zu fahren. Vor allem die Musik hat mich anfangs fasziniert. Ich bin ein Soul-Fan und sammle alte Schallplatten, seit ich 17 bin. Aus Detroit kommt das berühmte Motown-Label, später wurde dort Techno erfunden. Aber es ist eben auch unter sozialen Gesichtspunkten ein extrem aufgeladener Ort. Einst ist in dieser Stadt der amerikanische Mittelklasse-Traum erblüht, mit soliden Jobs und einem Eigenheim für alle. Heute kann man dort sehen, wie diese Wohlstandsträume nach und nach zerplatzt sind, es gibt Tausende Ruinen-Fotos. Seit 20 Jahren beschäftige ich mich mit Detroit, habe viel darüber gelesen, und sehr bald hat der Verfalls-Mythos den Musik-Mythos auch in meinem Kopf überlagert. Ich habe mich gefragt: Wie kann es sein, dass die USA, die große Macht jenseits des Ozeans, solche Schwierigkeiten mit einem Ort hat? Und was hat das womöglich auch mit uns zu tun?
Die USA waren Ihnen als Amerikanistin aber schon doch vorher aus eigener Anschauung bekannt?
Sicher, ich bin sehr oft in die USA gereist, aber Detroit habe ich mir immer aufgespart, weil ich zu viele Frage an diese Stadt hatte, um einfach so mal vorbeizuschauen. Vor einem halben Jahr war es dann so weit: Ich hatte Zeit und genug Geld und bin für einen Monat hingefahren. Genau jetzt schien mir der richtige Zeitpunkt zu sein. Letztlich haben die „London Riots“ aus dem vergangenen Sommer den Ausschlag gegeben. Auch in Europa sprechen wir seit einer Weile ja viel über den Organismus ,Stadt‘ - über die Gentrifizierung der beliebten Metropolen einerseits und die Verarmung der Shrinking Cities auf der anderen Seite. Auch bei uns werden Verteilungskämpfe zunehmend in den Städten ausgetragen. Wie wollen wir leben, was geschieht, wenn der Faktor Arbeit für immer mehr Menschen wegbricht, wie verändert sich der Lebensraum? So entstand die Idee zu diesem Buch. Und in diesem Buch versuche ich, die Mythen, die in meinem europäischen, mittelständischen Hirn fest eingenistet sind, immer mitzuerzählen – und an der Realität zu überprüfen.
"Don’t let them say you ain’t beautiful", heißt es im Refrain eines Liedes des Rappers Eminem, der ja aus Detroit stammt In einem anderen Song hat Eminem sich bereits über das schlechte Image der Stadt geärgert, verbreitet von einer Berichterstattung, die vergesse, dass “real people” in Detroit wohnten. Wie hat sich Ihr Bild von Detroit geändert, durch Ihren dortigen Aufenthalt im vergangenem Jahr?
Die Detroiter sind sich der Mythenhaftigkeit ihrer Stadt voll bewusst. Es gibt zum Beispiel das Schlagwort des „Ruinen Porno“. Damit schimpfen die Bewohner auf Journalisten und Touristen, die mal kurz in die Stadt kommen, ein paar spektakuläre Fotos von verlassenen Gebäuden schießen und wieder abrauschen. Das ist natürlich zynisch, und die Bewohner empfinden das zu Recht als eine Ausbeutung ihrer Armut. Man muss ja ganz klar sagen: Fast die Hälfte der Menschen ist auf Lebensmittelmarken angewiesen, gut ein Drittel kann nicht richtig lesen und schreiben, die Arbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent. Es gibt definitiv eine Art „Armuts-Tourismus“ in Detroit. Andererseits versuchen manche Anwohner auch selbst, Kapital aus dem Verfall zu schlagen und bieten „Ruinen Touren“ an.
Auch mir schlug zunächst einige Ablehnung entgegen: Die Leute waren misstrauisch, anfangs sehr verschlossen. Immer wieder musste ich ausführlich erklären, wer ich bin und was ich wollte. Als sie gemerkt haben, dass ich öfter vorbeikomme, dass ich in Liquor Stores herumhänge, in Obdachlosenasylen ganze Tage verbringe oder in einer Suppenküche für Arme mithelfe, wuchs das Vertrauen. Und schließlich hatte ich den Eindruck: Die Leute sind ganz froh, wenn sie vieles mal erzählen können – wie schwierig das Leben an diesem Ort ist, aber auch, wie stolz sie sind und mit wie viel Energie sie versuchen, den Laden irgendwie am Laufen zu halten.
Was unterscheidet Detroit als „schrumpfende Stadt“ von vergleichbaren Städten in Europa, die auch unter einem ökonomischen Niedergang leiden, beziehungsweise von massiver Abwanderung betroffen sind?
Zwei große Unterschiede gibt es. Erstens: die Größe von Detroit. Anschaulich wird die Ausdehnung, wenn man sich vorstellt, dass die Bewohner von San Francisco, Boston und Manhattan alle zusammen nach Detroit passen würden, wäre die Stadt genauso dicht besiedelt wie jene Metropolen. Einst lebten zwei Millionen Menschen in Detroit, heute sind es 700.000, und an vielen Stellen hat die Natur sich das Gelände zurückgeholt, da leben heute Waschbären und Füchse. Es ist also eine Leere im amerikanischen Format, Breitband, XXL.
Der zweite Unterschied: Man sieht sofort, wie Armut und Rassismus in Detroit aneinander gekoppelt sind. Über 80 Prozent der verbliebenen Bewohner sind Afroamerikaner. Aber kaum hat man das gebeutelte Stadtgebiet verlassen, gelangt man in den sehr reichen Speckgürtel. Man kann sehr praktisch sehen, wie Armut vererbt wird, es ist brutal. Eine Anwohnerin aus einem der reichen Vororte hat mir gesagt: „Wir leben hier als Oberschicht, in der Stadt lebt die Unterschicht. Es fehlt bei uns das, was man gesellschaftliche Mitte nennen würde.“ Andere Anwohner sagen, Detroit sei die nördlichste Dritt-Welt-Siedlung auf dem Globus. Das Gefälle zwischen arm und reich ist wirklich gewaltig. Das kenne ich so, in dieser Schärfe, von keinem Ort in Europa.
Sie haben eben erwähnt, Sie sind auch nach Detroit gefahren um zu sehen, was dieser Ort mit uns zu tun haben könnte. Gibt es da eine Erkenntnis?
Na ja, Detroit hatte einen interessanten Rückspiegel-Effekt auf meine politischen Haltungen. Da ist einerseits der Begriff „Liberalismus“, an dem ich mich, wie viele andere, seit Jahren aufreibe. Es geht dabei um die Idee von individueller Freiheit, was an sich ja eine wunderbare Sache ist. Aber seit den 90er Jahren hat dieser Begriff mit der Vorsilbe „Neo“ für viele Menschen extrem an Attraktivität verloren. Wir sehen ja auch an vielen europäischen Orten, Griechenland, Spanien, oder bei uns in der Schicht, die wir neuerdings ,Prekariat‘ nennen, wie unfrei sich ein pervertierter Liberalismus anfühlen kann – wie er viele Menschen bewegungsunfähig macht, statt sie zu stärken. In Detroit habe ich eine sehr interessante Spielart von einem widerständigem Liberalismus erlebt. Zum Beispiel beim Urban Farming, bei friedlichen Landbesetzungen. Der Autonomie-Begriff ist den meisten Amerikanern heilig – sie wollen sich, sozusagen, selbst verwalten, und dieser lupenreine Liberalismus wirkt oft ziemlich „links“, könnte man als Europäerin vielleicht sagen.
Aber dann ist da diese andere europäische, große Idee, die wir Sozialdemokratie nennen. Traditionell gibt es dafür keine große Sympathie in den USA. Die Menschen verlassen sich lieber auf freiwillige ehrenamtliche Leistungen als auf den Staat. Viele können sich etwas anderes auch gar nicht vorstellen. Als europäische Besucherin habe ich gesehen: Das läuft so nicht, erst recht nicht an einem Ort wie Detroit. Da gibt es Hunderttausende, die in der dritten oder vierten Generation völlig chancenlos aufwachsen. Und gerade macht die Stadt 60 weitere öffentliche Grundschulen dicht, stellt weitere Buslinien ein. Sie nehmen den Menschen die letzten Chancen, irgendwie noch Anschluss zu finden an Bildung, an das gesellschaftliche Leben, an alles. Es stimmt eben einfach nicht, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Man kann sagen: Ich bin als politisch Verunsicherte mit Mitte-Links-Tendenz hingefahren - und als überzeugte Sozialliberale zurückgekommen, und zwar mit der Betonung auf „sozial“.
Detroit gilt inzwischen auch als Magnet für junge, kreative Menschen. Stadtplaner sprechen bereits von einem "Berlin der USA". Was hat man sich unter diesem Label vorzustellen und taugt das Beispiel Berlin denn wirklich für Detroit?
Das Schlagwort Berlin wird international ja quasi als Marke gesehen – nicht nur in Detroit, sondern auch anderswo. Dahinter steht das Konzept der creative city, das u.a. der amerikanische Wirtschaftstheoretiker Richard Florida 2002 entworfen hat. Platt gesagt: Wo traditionelle Jobs wegfallen, in der Industrie und im Gewerbe, muss eine andere Ökonomie entstehen. Florida und andere sprechen von einer New urban economy. Es ist exakt das, was Klaus Wowereit 2003 mit dem Slogan „arm, aber sexy“ beschrieben hat. Man versucht, junge, experimentierlustige, sehr gut ausgebildete Menschen anzulocken, die in einer brach liegenden Stadt neue Geschäftstätigkeiten hochziehen, etwa indem sie Softwarefirmen gründen oder mit Cafés, Galerien und Clubs eine touristisch interessante kulturelle Infrastruktur schaffen. Auf solchen Prozessen beruhen dann etliche Hoffnungen – etwa die, dass potente Investoren eines Tages nachziehen, Hotels und Vorzeige-Niederlassungen eröffnen und so weiter.
Was in Berlin ja auch nur zu durchwachsenen Ergebnissen führt.
Ja, in Berlin hat das in gewisser Weise funktioniert – mit dem bitteren Effekt, dass Berlin inzwischen ja eher ein Fake ist, ein hochneurotischer Showroom. „Alle wollen nach Berlin“ heißt es, aber die Mieten steigen, nicht nur die Bevölkerung wird verdrängt, auch Ladenlokale, Atelierräume für kleine Einzelunternehmer werden teurer. Die Stadt nimmt von den großen Playern natürlich mehr Steuern ein. Wie verzweifelte Stadtväter versuchen, dieses Modell nachzuspielen, sehen wir etwa im Ruhrgebiet, das mit Macht versucht, nun ebenfalls zu einem Kreativ-Areal zu werden. Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht ganz an diese Konzepte. Fest steht, dass viele der neuen Kreativarbeiter prekär entlohnt werden, dass die eigentlichen Arbeitskräfte nicht wirklich gut davon leben können. Der Hartz-IV-Anteil ist in Berlin z.B. auch heute noch auffallend hoch, und viele junge talentierte Menschen werden in Wahrheit von ihren westdeutschen Eltern alimentiert, bis über den 40. Geburtstag hinaus. Und diejenigen, die nicht zur Bildungselite gehören, haben es doppelt schwer, Zugang zu diesen Stadtmarketing-Spielen zu finden. In Detroit wird das erst recht nicht funktionieren. Es stimmt sicher, dass ein paar Jobs am Rande der Kreativwirtschaft entstehen, Jobs, für die man keinen Hochschulabschluss braucht, etwa bei Reinigungs- oder Lieferdiensten, im Wachservice, im gastronomischen Bereich. Aber das wird nicht genügen, um eine solide gesellschaftliche Mitte wieder aufzubauen.
In Berlin, wie auch in anderen urbanen Ballungszentren der Republik, wird heftig über das Phänomen der Gentrifizierung debattiert, meistens in einem negativen Kontext. Hat sich Ihr Blick auf die hiesige Debatte verändert, nach Ihrem Aufenthalt in Detroit? Leidet Detroit auch unter einer Gentrifizierung, oder eher an dem Gegenteil?
Der Kampfbegriff „Gentrifizierung“ ist mir in Detroit tatsächlich nie begegnet, denn die Stadt hat das gegenteilige Problem, sie leidet unter einer massiven De-Gentrifizierung. Bisher galt: Wer es sich leisten kann, zieht weg. Somit funktioniert Detroit wie ein Dia-Negativ zu unseren hiesigen Metropolen-Debatten. Aber in beiden Fällen geht es letztlich um dasselbe Problem: um die Segregation der Lebensräume. Wenn wir in den Zeitungen immer wieder lesen, dass die so genannte Schere zwischen Arm und Reich in den postindustriellen Gesellschaften immer weiter auseinanderklafft, kann man in Detroit sozusagen besichtigen, wohin das im Extremfall führen kann – zu der verarmten „chocolate city“ und den sehr wohlhabenden „vanilla suburbs“. Nicht einmal zwanzig Minuten Fahrtzeit liegen im Großraum Detroit zwischen diesen beiden ganz unterschiedlichen Planeten. Wir müssen aufpassen, dass bei uns nicht dasselbe passiert, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Die Geld- und Bildungselite kabbelt sich in den beliebten Metropolen um die schönen Altbauwohnungen – und die Abgehängten, Schwächeren, Langsameren werden weiter an die Peripherie gedrängt. Bei aller Faszination und Zuneigung den USA gegenüber bin ich in diesem Punkt ganz Europäerin: Ich wünsche mir eine dicht besiedelte Stadt, in der viele verschiedene Menschen zusammenwohnen und sich frei bewegen können, ob wohlhabend oder prekär, ob bürgerlich oder alternativ. Wir dürfen den Lebensraum Stadt nicht zu einem Spekulationsobjekt verkommen lassen. Das ist mir, nach dem Besuch in Detroit, noch mal viel bewusster geworden.
Katja Kullmann: Rasende Ruinen. Taschenbuch, 90 S.eiten, Suhrkamp Verlag, März 2012, ISBN-10: 3518062182