Viel habe ich nicht mitbekommen. Meine Heimathäfen im Büchermeer waren der Vorwärtsstand und der Dietz-Verlag. Von ihnen aus steuerte ich die mir von den Vorjahren in Erinnerung gebliebenen
Inseln an, ohne konkretes Anliegen. Je größer und dichter die Menge wird, die einen umgibt, umso mehr bleibt man allein. Mit der drückenden Nähe wächst die Distanz. Ich war fast so allein, für
mich, wie auf einem stillen See, wie bei Wanderungen im Wald oder beim Durchstreifen fremder Städte.
KD Wolf mit maltraitiertem Pass
Der erste Halt bei KD Wolff und seinem Verlag mit dem für den Unkundigen fremdartig klingenden Namen Stroemfeld/Roter Stern. Er zeigte mir - immer noch empört, aber auch ein wenig
geschmeichelt - seinen anlässlich des gescheiterten Vorhabens, die USA zu besuchen, maltraitierten Pass, der sichtbare Spuren der Zurückweisung durch die amerikanischen Behörden trug. Wir
sprachen über die Gustav Regler-Ausgabe, zu deren Komplettierung noch drei Bände fehlen, die Finanzierung aber ebenfalls. Irgendwie ist dem Saarland das Interesse oder die finanzielle Puste
ausgegangen, vielleicht auch beides.
Dass ein Bürger aus Reglers Heimatstadt Merzig vielleicht zum Toto als Direktor kommt, vermochte ihn nicht zu beruhigen - eher das Gegenteil, schien mir. Sein Gesicht hellte sich auf, als
er mir das erste Exemplar der Kommentare Nabokovs zu Puschkins "Eugen Onegin" präsentierte, die den Umfang des kommentierten Werkes um ein Vielfaches übersteigen. Eine Vorhut, frisch aus der
Druckerei, wie eine Kostbarkeit unter dem Tisch gehütet, gerade noch rechtzeitig für die Messe fertig geworden, Lockvogel für potentielle Liebhaber. KD weiß von meiner Bewunderung für Nabokov.
Unseld lächelt milde
Am Stand der Frankfurter Verlagsanstalt stieß ich auf die Begleiter mancher Lesenacht, Claire Beyer ("Rohlinge") und Ernst-Wilhelm Händler ("Welt aus Glas). Gut, dass sie noch zu tun
hatten, sonst stünden wir vielleicht heute noch zusammen. Joachim Unseld lächelte milde, als sie mir ihre neuen Bücher zusteckten. Die Umschläge von Neo Rauch haben viel Aufsehen erregt - gut so,
aber ich rate, nach einem kurzen, aber respektvollen Innehalten dann doch zu den Texten überzugehen.
Lange hütete ich den verwaist vorgefundenen Stand von Belleville, den der Verleger Michael Farin im Stich gelassen hatte, um sich zu verproviantieren. Er tat so, als sei es die natürlichste
Sache der Welt, dass ich es mir gemütlich gemacht hatte und in seinen Büchern blätterte. "Du hättest Dir ruhig einen Kaffee brauen können - oder besser zwei" bemerkte er nur. Gleich zwei Bücher
von Gaddafi zierten seine Regale, außerdem die Vernehmungsprotokolle des Massenmörders Hamann, eine Schwarte über den Nosferatudarsteller mit dem passenden Namen Max Schreck usw.
Farins Interessen gehen noch verschlungenere Wege als meine und er gibt ihnen Gestalt, indem er sie in seinem Verlag druckt. Kennengelernt haben wir uns bei einem ganz harmlosen Streit über
die w i r k l i c h e Zahl der Erstausgaben von Otto Flake - übrigens bis heute, und nicht nur bei Flake, ein ungelöstes Problem.
Schmerzliche Gedanken an die SPD
Michael Naumann lief mir am Stand der "Zeit" in die Füße. Wie nicht anders zu erwarten, beklagten wir die letzten Wahlergebnisse und tauschten Ansichten, Vorschläge und Pläne über den Weg
unserer Partei aus der Krise. Dann aber zog er mich am Arm durch die zähe Menge in die Halle Vier und wir redeten nur noch über Bücher. Zielgenau landeten wir bei Eichborn und der Anderen
Bibliothek. Er zeigte mir das wunderbare Vogelbuch seines Vorfahren Johann Friedrich Naumann (1780 bis 1857), mit 80 erst kürzlich aufgefundenen, unveröffentlichten Aquarellen der
mitteleuropäischen Vogelwelt.
Als ich ihn bat, mir etwas auf den Vortitel zu schreiben, übermannte ihn der schmerzliche Gedanke an die SPD erneut, was sich in den Worten "eines Tages werden wir wieder singen und
fliegen" niederschlug. Ich antwortete ihm ohne zu Zögern: "Hoffentlich nicht erst auf Wolke sieben". Und strebte, schon ein wenig innerlich beflügelt, wieder dem Vorwärtsstande zu.
war von 1998 bis 1999 Ministerpräsident des Saarlandes und von 1999 bis 2000 Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen.