In ihren Autobiografien widemen beide dem 15. Juli 1927 eine ausführliche und jeweils sehr persönliche Beschreibung. Sie waren zweiundzwanzig Jahre junge Männer, kannten sich nicht und ihre
Lebenswege haben sich auch später, soviel bekannt ist, nie gekreuzt. Doch es ist erstaunlich, wie genau in der Sache ihre jeweiligen Berichte übereinstimmen.
Elias Canetti studiert zu dieser Zeit in Wien Chemie. Als Sohn spaniolischer Juden in Bulgarien geboren, hat er, dessen Vater früh verstorben ist, mit Mutter und Brüdern früh die
Städte und Länder gewechselt. Während seiner Schulzeit in Frankfurt verfolgt der in einigermaßen gesicherten Verhältnissen lebende Bürgersohn mit Anteilnahme die Verelendung der deutschen
Bevölkerung durch Inflation und Reparationen. Er beobachtet eine Protestdemonstration der Frankfurter Arbeiter nach der Ermordung Rathenaus. Nach anfänglichem Zögern schließt er sich dem Zug an.
"Später, als ich nachgab und mich wirklich in der Masse befand, kam es mir vor, als ginge es hier um etwas, das in der Physik als Gravitation bekannt ist…., was mit einem in der Masse geschah, eine
völlige Veränderung des Bewusstseins, war ebenso einschneidend wie rätselhaft." Das Phänomen der Masse wird ihn von da an immer wieder beschäftigen, und es ist in Wien, wo er entscheidende
Erfahrungen dazu machen wird.
Protest gegen ungerechtes Urteil
Am Morgen des 15. Juli 1927 liest er in der "Reichspost", dem österreichischen Regierungsorgan, die in Riesenlettern gedruckte Überschrift:" Ein gerechtes Urteil". Was war geschehen? Im
Burgenland, das erst wenige Jahre zuvor von Ungarn an Österreich gekommen war, standen sich seit etwa 1926 zwei paramilitärische Kampforganisationen gegenüber: die Frontkämpfer, eine Art
Veteranenverband der Rechten, und der sozialdemokratische " Republikanische Schutzbund".
In Schattendorf, einem kleinen Ort nahe der ungarischen Grenze, waren im Januar 1927 die Aufmärsche beider Verbände zwar mit Provokationen aber ohne ernsthaften Zusammenstoß verlaufen, als
plötzlich von Frontkämpfern auf unbeteiligte Zivilisten geschossen wurde. Es gab zwei Tote. Da die Motive dieses Angriffs nicht geklärt werden konnten, sprachen die Geschworenen am Wiener
Landesgericht die drei geständigen Täter am 14. Juli frei.
Massendemonstration
Dieser "Freispruch" wurde offiziell als " gerechtes Urteil" bezeichnet. Es war dieser Hohn auf jedes Gefühl von Gerechtigkeit noch mehr als der Freispruch selbst", so schreibt Canetti, "was
eine ungeheure Erregung in der Wiener Arbeiterschaft auslöste. Aus allen Bezirken Wiens zogen die Arbeiter in geschlossenen Zügen vor den Justizpalast, der durch seinen bloßen Namen das Unrecht für
sie verkörperte. Es war eine völlig spontane Reaktion, wie sehr, spürte ich an mir selbst. Auf meinem Fahrrad fuhr ich schleunigst in die Stadt hinein und schloss mich einem dieser Züge an."
Der Justizpalast steht um diese Zeit bereits in Flammen. Niemals wird geklärt werden, wer das Feuer gelegt hat. Die Demonstranten sind, wie Canetti bezeugt, waffenlos und ohne Anführer.
Nach dem vergeblichen Appell des sozialdemokratischen Bürgermeisters Seitz, die Löscharbeiten nicht zu behindern und die Menschenmenge die Barrieren durchbricht, stürmt berittene Polizei
zwischen die bisher friedlichen Demonstranten. Die Menge ist aufs Äußerste gereizt, die Polizei erhält Schießbefehl, die Situation eskaliert zur Straßenschlacht. Canetti selbst teilt sich die
Empörung der Menschen mit, die zunächst vor dem Gewehrfeuer zurückweicht, sich aber immer wieder in den Gassen sammelt und in selbstmörderischer Erregung vorwärts drängt. Er versucht, eine
Erklärung dafür zu finden: "Das Feuer war der Zusammenhalt, seine Präsenz war überwältigend, auch dort, wo man es nicht sah, hatte man's im Kopf, seine Anziehung und die Massen waren eins."
Es ist bemerkenswert, dass Canetti , der eine Art naturwissenschaftliches Interesse an der "Masse", an ihren Mechanismen und Strukturen hat, dann doch von Einzelpersonen erzählt, die wie im
grellen Licht einer Theaterbühne agieren: Der Mann, der immerzu nach seinen brennenden Akten schreit , die Frau, die mit dem Ruf "Peppi! Peppi!" schwankt und zu Boden fällt oder jener, der mit der
Faust auf seine Brust zeigt und brüllt: "Da schießt's eine! Da! Da! Da!"
Am Ende des Tages werden mehr als 80 Tote und viele Verletzte zurückbleiben, eine verheerende Bilanz für die Verantwortlichen in Polizei und Stadtverwaltung, vor allem aber für die
sozialdemokratische Partei und den Schutzbund, wo man die Gefährlichkeit der Situation unterschätzt und zu lange mit dem Eingreifen gezögert hatte.
Manès Sperber, der andere Augenzeuge, lebt mit seiner Familie seit 1916 in Wien. Die Verelendung , in der sich die Familie seit ihrer Flucht aus Zablotow in Ostgalizien befindet,
macht den Jugendlichen früh sensibel für radikale Standesunterschiede, für offenen und versteckten Antisemitismus, aber auch für die Verbitterung der verarmten Menschen, denen er auf seinen
Wanderungen durch die Stadt begegnet.
In den Zwanzigerjahren besucht der gesellschaftliche Außenseiter die Volkshochschulkurse des Individualpsychologen Alfred Adler. Ein Referat über die "Psychologie des Revolutionärs" und sein
frühes Interesse an der "Vorbereitung auf einen unerreichbaren Zustand" verschaffen ihm wichtige Begegnungen mit sozialistischen und kommunistischen Intellektuellen. Als ein guter Kenner der
politischen Verhältnisse in der Stadt ist er frühzeitig in der Gegend um den Justizpalast. Im Gegensatz zu Canetti schließt sich Sperber den Demonstranten nicht an, sondern bleibt mit seinen
Freunden Beobachter der Ereignisse.
Passiver Amoklauf
Im Band II seiner autobiografischen Trilogie,"Die vergebliche Warnung", schreibt Sperber: "Fast 48 Jahre trennen mich von jenem Ereignis, dem Erlebnis des abgründigen Staunens, von dem
Entsetzen über jenes mörderische Geschehen im Herzen der alten Stadt, die an diesem Tag, unter weitem, blauen Himmel, im kaum spürbaren, zärtlich kühlenden Wind, während langer Stunden in einen
Kriegsschauplatz verwandelt blieb, auf dem nur jene den Krieg führten, die bestellt waren, das Leben der Wiener zu schützen - sie die Wach- und Schutzleute. Und die anderen? Die anderen, die
starben."
Er glaubt zu träumen, als er erkennt, dass die zusammengeströmten Menschengruppen unbewaffnet und ohne Führer sind. Einen "passiven Amoklauf" nennt er das Anrennen der Demonstranten gegen die
nie zuvor in der Stadt gesehenen Kampfwagen, aus denen die mit Gewehren ausgerüsteten Wachleute von ihren Sitzen aus nach beiden Seiten feuern konnten.
"Symbolträchtiges Unrecht"
"Wo war die Führung der sozialdemokratischen Partei, warum griffen sie nicht ein?.....Wo war der Republikanische Schutzbund, die militärische Organisation der SP,die, hieß es, in Wien allein
über Zehntausende von gut ausgebildeten, kampfbereiten Männern verfügte?" Sperber empfindet Zorn über das "symbolträchtige Unrecht" und ein "negatives Staunen über die Ereignisse und über jene, die
darin als Täter, Opfer, Zeugen einbezogen waren - und über mich selbst." Ihm,dem Marxisten, der von der Notwendigkeit überzeugt ist, dass ohne Verzug die klassenlose Gesellschaft zu schaffen sei,
ist plötzlich nichts mehr selbstverständlich.
Zweifel an Rationalität des Menschen
Das negative Staunen wird seine Zweifel nähren an der Rationalität der Menschen als Gestalter ihrer eigenen Geschichte, ihres kollektiven und individuellen Geschicks. Und wie ein Schlüssel zu
allem kommenden Unheil entdeckt er als Psychologe "die Vernünftigkeit des Irrationalen, das methodische des Wahnsinns, die Schlüssigkeit einer Kette von Irrtümern, die unangreifbar bleibt, solange
man den Initialirrtum als unantastbare Wahrheit gelten lässt". Für beide Schriftsteller ist aus dem 15. Juli 1927 in Wien das Hauptthema ihres Lebenswerks entstanden, das Thema "Masse und Macht"
bei Canetti und die lebenslange Beschäftigung mit den Spielarten von Tyrannis und Gewalt bei Sperber.
Von Ulrike Schuster
Literaturhinweise:
Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, Lebensgeschichte 1921-31, Fischer Taschenbuch 1983.
Elias Canetti, Masse und Macht, 1960. Fischer Taschenbuch Verlag 1994.
Manès Sperber, Die vergebliche Warnung, Fischer Taschenbuch Verlag 1993.
Manès Sperber, Die Tyrannis und andere Essays, dtv 1987.
Manès Sperber, Sieben Fragen zur Gewalt, dtv 1978.
Fritz Kaufmann, Sozialdemokratie in Österreich, Idee und Geschichte einer Partei. von 1889 bis zur Gegenwart, Wien 1978.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.