Das Papier: bröckelnd, gebräunt, manchmal stockfleckig, angestaubt - mit dem charakteristischen, für Liebhaber anheimelnden Geruch trockener Blätter. Die Beschäftigung mit den Relikten der Vergangenheit ist einerseits kindliche historische Schatzsuche, gleichzeitig aber auch ein Forschen nach den Quellen und Wurzeln des eigenen Bewusstseins.
Je mehr man sich an die veraltete Typographie gewöhnt, den Singsang der altmodischen Sprache mitsummen kann, wird man in eine andre Welt hineingezogen. Man lernt: es gab und gibt sie, die andere Welt, vor, neben, hinter unserer Wahrnehmung - und nicht nur die eine, sondern viele Welten. Die Zugänge liefern uns Bilder, Erzählungen und historische Darstellungen. Der Schlüssel zu ihrem tieferen Verständnis liegt in den Originalen, in den Dokumenten, die Teil der vergangenen Wirklichkeit waren, in den jeweils zeitgenössischen Ausgaben, die noch nichts von dem wussten, was für uns doch so offen auf der Hand liegt.
Zeugnisse aus revolutionären Zeiten
Ich sammle Zeitschriften aus vielen Epochen: Magnum, die frühen Spiegel, Konkret, die Weltbühne, die Neue Zeit, den Vorwärts und Tageszeitungen aus wichtigen Phasen früherer Jahrhunderte. Auch
die letzte, in rot gedruckte Ausgabe der Neuen Rheinischen Zeitung vom 19. Mai 1849 nenne ich stolz und respektvoll mein eigen.
Am stärksten angerührt bin ich von den Originalen des "Cri du Peuple", der wichtigsten der sechs großen Zeitungen, die in den Tagen der Pariser Kommune gedruckt wurden. Sie schildert den
erregenden Kampf für eine Utopie von Tag zu Tag, die verschlungenen Wege von Fortschritt und Rückschritt bis zum Sturz in die Katastrophe. Chefredakteur war Jules Vallès. Die Auflage betrug
zwischen 50 000 und 100 000 Exemplaren. Die ersten Ausgaben erschienen vom 22. Februar bis zum 12. März 1871, dann vom 21. März bis zum 23. Mai 1871, insgesamt 65 Nummern, jeweils ein Blatt in
Folio, Vor- und Rückseite fünfspaltig bedruckt. Der Verkaufspreis betrug fünf Centimes.
Es berührt mich tief, wenn ich in den Texten die Hoffnung auf ein besseres Leben wieder finde, und doch mein Wissen nicht verdrängen kann, wie schnell diese in Blut ertränkt wurde,
niederkartätscht von den Truppen der Regierung Thiers. Bei gewissen Daten - Momenten des Erfolgs - halte ich trotzdem den Atem an und genieße die Augenblicke des Triumphs mit, wohl wissend, dass
es eben nur Augenblicke sind, so wie das Leben ja letztlich auch nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Augenblicken ist.
So mag auch der in vergilbtes Papier versunkene Bob Dylan Teil der Konvulsionen geworden sein, mit denen die USA sich auf den langen Weg begaben, der nach der Abschaffung der Sklaverei in die
Bürgerrechtsbewegung mündete, der sich Dylan in seinen frühen Jahren anschloss und die auch mein Bewusstsein veränderte.
Einen kleinen, aber nicht unbedeutenden Vorteil hat Dylan mir gegenüber: Er war wohl auch damals auf der Seite der Sieger, während meine Leute in Paris verloren haben.
Reinhard Klimmt ist Bundesminister a.D., von 1998 bis 1999 war er Ministerpräsident des Saarlandes.
Reinhard Klimmt, Überall und Nirgendwo,
Gollenstein-Verlag 2006
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war von 1998 bis 1999 Ministerpräsident des Saarlandes und von 1999 bis 2000 Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen.