Es war nicht der Autor Ulrich Schneider, der eingangs sein Buch vorstellte, Christian Lindner ergriff das Wort - und ließ es lange Zeit nicht mehr los. Er wies die Zuhörer auf sein Exemplar
des Buches hin, das bestückt mit vielen kleinen gelben Klebezetteln vor ihm lag. Immer wieder nahm er es in die Hand, drehte und wendete es. Lindner sprach von einem einseitig geschriebenen
Appell der "vor Emotionen vibriert", ein Buch, das dem Staat vorwerfe, sich auf die Mitte zu konzentrieren und die Ränder auszusparen. Im Gegensatz zu Schneider, glaube er nicht an den Rückzug
des Sozialstaates. In Bezug auf dessen Forderung, die Hartz-IV-Regelsätze zu erhöhen, fragte er: "Wer soll das bezahlen". Nein, einverstanden sei er nicht mit den Thesen des Ulrich Schneider.
Deshalb habe er sich auch sehr viele kleine Blitze an den Rand gezeichnet, wenn ihm wirklich etwas gegen den Strich ging. Doch und dies sagte Lindner bestimmt: "Eine gemeinsame Plattform ergibt
sich aus dem Subtext."
Perspektivlose Armut
Aus dem angekündigten Streitgespräch wurde so dann doch nichts. Es blieb vielmehr bei Monologen, in denen jeder seinen Standpunkt erklärte. Auf Zwischenrufe vereinzelter Hart-IV-Empfänger
reagierte Moderatorin Tissy Bruns vom "Tagesspiegel", indem sie dem Autor das Wort erteilte. Ulrich Schneider erklärte, dass er sein Buch als "Anleitung für Menschen, die sich mit Armut
beschäftigen" versteht. Anhand einiger aus dem Leben gegriffener Beispiele öffnete er seine Sicht auf den Sozialstaat Deutschland. Seiner Meinung nach, tue der Staat finanziell viel für die
Menschen, doch als schlimmstes Versäumnis empfinde er, dass die Sozialpolitik ihnen keine Perspektiven böte. "Hartz IV ist eine Farce, denn die Menschen werden zwar in Bewegung gehalten, aber
haben keine Perspektive." Statt desen müssten sie spüren: "Wenn ich mich bewege, dann passiert auch etwas". Es könne nicht sein, das Hartz-IV-Empfänger auf Jahre hinaus in Lehrgänge oder
Ein-Euro-Jobs gezwungen werden, es für sie aber keine festen Arbeitsstellen gäbe.
Schneider greift auch die "Verteilungsfrage" auf. Er fordert die Reichen zu höheren Abgaben auf. "Die Gesellschaft muss für Armut sensibilisiert werden" und die moralische Reißleine gezogen
werden.
Ewiger Kreislauf
Die Perspektivlosigkeit habe Deutschland schwer im Griff, erläuterte Schneider. Es sei nicht verwunderlich, dass so viele Kinder von Hartz-IV-Empfängern illusionslos wären, da ihre Eltern
ihnen nichts anderes vorleben könnten. Kinder orientieren sich an Eltern. "Will man Kindern Perspektiven geben, muss man Eltern Perspektiven geben". Menschen, die kurz oder lange von Hartz IV
leben müssen, stünden ständig unter Generalverdacht, sie seien faul und wollten doch gar nicht arbeiten, könnten nicht mit Geld umgehen usw.
Schneider wirft der Politik vor, Zahlen und Statistiken, nach gusto zu verschönern oder zu verschlechtern. Damit werde die Stimmung in der Gesellschaft angeheizt und die Kluft zwischen
Arbeitnehmer und Hartz-IV-Empfängern in der Gesellschaft gefördert: "49 Prozent wollen nicht, dass Hartz IV erhöht wird - die Propaganda wirkt."
Schneider fordert die Menschen auf "zuzuhören und voneinander zu lernen."
Ulrich Schneider: "Armes Deutschland: Neue Perspektiven für einen anderen Wohlstand" Westend Verlag 2010, 240 Seiten, 12,99 Euro, ISBN 9783492951364