Extreme Bedingungen verlangen extreme Antworten: „Dr. Ketel – der Schatten von Neukölln“ entwirft mit erstklassigen Darstellern ein finsteres Zukunftsszenario, das sich um eine zentrale Frage der menschlichen Existenz rankt.
Schmuddelige Hartz-IV-Hochburg, Laboratorium für urbane Lebens- und Kunstformen oder Schauplatz der Gentrifizierung: Berlin-Neukölln ist von allem ein bisschen. Kein Wunder, dass dieser Tage immer wieder dieses Beispiel in die Runde geworfen wird, wenn von der widersprüchlichen Entwicklung von Großstadtquartieren die Rede ist. Manch einer hält den Bezirk im Berliner Süden wegen der Extreme, die hier aufeinander prallen, gar für den spannendsten Ort der Republik.
Die krassen Kontraste im unmittelbaren Umfeld ihrer gemeinsamen Wohnung inspirierten die jungen Filmemacher Anna (Produktion) und Linus de Paoli (Regie), genau hier ein Projekt über einen klassischen Konflikt zu verwirklichen: den zwischen Berufung und Legitimation. Also ein universelles Thema, das sich nicht nur in Neukölln verorten lasst – aber eben dort besonders gut, wie die beiden sagen. Herausgekommen ist eine düstere Zukunftsvision, die sich klassischer Zutaten des Film Noir bedient.
Das Neukölln der Zukunft ist ein überaus garstiger Ort. Menschen krepieren auf der Straße, weil sie sich keinen Arzt leisten können. Dr. Ketel (Ketel Weber) fühlt sich dazu berufen, seinen verarmten Mitmenschen zu helfen, indem er nachts Medikamente aus Apotheken für sie klaut oder ihre Wunden in seiner verranzten Kellerwohnung notdürftig pflegt.
Dabei wird er psychisch und körperlich zunehmend zum Wrack.
Doch die Umstände treiben ihn immer wieder an, an seine Grenzen zu gehen. Das Gesundheitssystem, das Leistungen nur noch gegen Bares anbietet, ist nur ein Teil eines weltumspannenden Ausbeutungszusammenhangs, über den ein ebenfalls globaler Sicherheitsdienst wacht. Menschen wie Ketel fallen auf. Und werden zu Todfeinden.
Wie es leuchtet
Um dem kriminellen Arzt, der eigentlich keiner ist, auf die Schliche zu kommen, lässt der Sicherheitsdienst die Spezialermittlerin Louise (Amanda Plummer) aus den USA einfliegen. Nicht, weil ihm die Zulassung als Arzt fehlt, sondern weil er ein unmenschliches Herrschaftsprinzip bedroht. Louise legt Ketel eines Tages tatsächlich Handschellen an. Doch er ahnt nicht, was diese sonderbare Frau in Wahrheit mit ihm vorhat. Kann er Berufung und Legitimation endlich unter einen Hut bringen?
Starke Kontraste prägen nicht nur Neukölln, sondern auch diesen Film, der unter anderem beim Filmfestival Max Ophüls Preis ausgezeichnet wurde. Angefangen bei der Schwarz-Weiß-Ästhetik, die sich momentan als Gegenbewegung zum 3-D-Spezialeffekte-Irrsinn auszuwachsen scheint. Mit Dr. Ketel schleichen wir durch ein Reich der langen Schatten, das kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht kennt und ein Großteil der Menschen, nicht nur im moralischen Sinne, bereits verschlungen hat. Wie leuchtend hell erstrahlt der Kiez hingegen, wenn Ermittlerin Louise die Szenerie betritt. Folgt diese schweigsame Engelsgestalt wirklich nur ihrem Killer-Instinkt? Immer wieder blickt die Kamera ihr und Ketel gnadenlos ins Gesicht. Was in ihnen arbeitet, lässt sich nur erahnen.
Mag „Dr. Ketel“ bei der Bildsprache und einer Erzählweise auf verschiedenen Zeitebenen tief in die Film-Noir-Kiste greifen: Von einer klassischen Genre-Produktion kann keine Rede sein. Dazu sind die meisten Dialoge viel zu improvisiert, manch eine Situation fast schon zufällig. Die genretypische Schlinge der Tragik, die sich unweigerlich zuzieht, greift hier nur bisweilen. Das verwundert allerdings kaum, wenn man sich vor Augen hält, dass das Drehbuch während der ersten 44 Tage am Set skizzenhaft blieb und erst, nachdem US-Charakterdarstellerin Amanda Plummer mit vor der Kamera stand, in eine halbwegs feste Form gegossen wurde. In diesem unfertigen Ambiente liegt wiederum der besondere Charme der Low-Budget-Produktion, zumal er dem Spannungsbogen keinen Abbruch tut. Im Gegenteil: Die gleichsam klare und expressive Bildsprache beamt einen sofort mitten ins Geschehen.
Alles fließt
In vielen Szenen kommt Laiendarstellern oder Passanten, die zufällig in Neuköllner Magistralen gefilmt wurden, die eigentliche Hauptrolle zu. In diesem Fluss lassen sich Ketel und Louise treiben, bis sie an einen gemeinsamen Punkt gespült werden. Dass Plummer für die Dreharbeiten von den USA in den Kiez jettete, kann als kleine Sensation gelten: Vor wenigen Jahren hatte sie die de Paolis auf einem Filmfestival in Spanien kennengelernt. Prompt sei von einer Zusammenarbeit die Rede gewesen, sagen sie.
Es war eine gute Idee: Plummer drückt mit ihrer unscheinbaren Louise dem Ganzen ihren Stempel auf, ohne die Szenerie zu dominieren. Ketel Weber, der in seiner kargen Hünenhaftigkeit wie eine Kreuzung aus Jean Gabin und Nosferatu daherkommt, ist ihr ein ebenbürtiges Gegenüber. Wo mag beider Berufung einmal enden? Dieser Film macht Lust, sie noch ein Stückchen weiter zu begleiten.
Info:
Dr. Ketel – der Schatten von Neukölln (Deutschland 2011), Regie: Linus de Paoli, Drehbuch: Anna und Linus de Paoli, mit Ketel Weber, Amana Plummer, Franziska Rummel, Burak Yigit u.a., 80 Minuten.
Ab sofort im Kino