Kultur

„Besties“: Verbotene Küsse auf dem Hochhausdach

Eigentlich müssten sie sich hassen. Tatsächlich aber lieben sie sich. Der packende Kinofilm „Besties“ erzählt ein Drama um zwei junge Frauen aus verfeindeten Gangs in einer Pariser Vorstadt.
von ohne Autor · 23. Juni 2023

Das Leben von Heranwachsenden kennt viele Paradoxien. Zum Beispiel das Lavieren zwischen dem Rausch der Gefühle für eine bestimmte Person und dem Wunsch, zu einer Gruppe zu gehören. Nicht immer geht beides zusammen. Ein Stoff für große Geschichten.

Auch das französische Drama „Besties“ widmet sich dieser Thematik, die meist viel komplizierter ist, als es zunächst scheint. Hierfür nimmt uns Regisseurin und Drehbuchautorin Marion Desseigne Ravel mit in eine Welt, die vielen weithin unbekannt sein dürfte. Es ist die Welt der Gangs von Mädchen und jungen Frauen in einer Banlieue von Paris.

Romantische Gefühle auf rauem Vorstadtpflaster

Diese Sphäre würde man auf den ersten Blick eher nicht mit romantischen Gefühlen verbinden. Auf dem rauen Vorstadtpflaster geht es um Zusammenhalt und Loyalität, um Territorien, Codes und Rituale. Die Frage, wer eine bestimmte Bank im Park besetzen darf, führt zu Handgreiflichkeiten. Nur am Rande ist zu spüren, dass diese Mädchen manchmal einfach nur Mädchen sein und unbedarft Spaß haben wollen. Erst recht jetzt im Sommer, wenn alle von ein paar schönen Tagen am Meer träumen.

Für Nedjma ist die Gang wie eine zweite Familie. Auch, weil ihre eigentliche wenig Halt bietet. Die Mutter ist kaum präsent, also füllt die älteste Tochter zu Hause das Vakuum und agiert als Beschützerin der kleinen Schwester, ebenfalls ein Gangmitglied. Nedjmas Platz in der Gruppe gerät in Gefahr, als sie Zina zum ersten Mal über den Weg läuft. Sie hat sich in ihre neue Nachbarin im Hochhaus verliebt. Und kann es kaum fassen. Zina gehört zur verfeindeten Clique. Bei den regelmäßigen Reibereien geht es wenig zimperlich zu. Das zeigt sich auch bei der ersten Begegnung an der besagten Parkbank.

„Moderne Julia und Julia“-Variante

Nedjma steht vor einem klassischen Konflikt. Der hindert sie allerdings nicht daran, sich immer wieder heimlich mit Zina zu treffen. Man ahnt es: Lange geht das nicht gut. Die jungen Frauen müssen sich entscheiden. Zumal sich die beiden Gangs ständig über den Weg laufen, etwa im Jugendclub: an einem Ort, wo sie Unterstützung und Struktur in einem ansonsten wenig strukturierten Alltag finden.

Der Verleih beschreibt den Film als „moderne Julia und Julia“-Variante. Wie immer man zu dieser Einordnung steht: „Besties“ lässt ein zeitloses dramatisches Schema auf berührende und packende Weise aufleben, nicht zuletzt aus einer queeren Perspektive. Und zwar mit viel Empathie für zwei Protagonist*innen, die anfangs wie gegensätzliche Pole wirken: hier die aggressive und schroffe Nedjma, dort die eher diplomatisch-bedächtige Zina. Im Auf und Ab der Emotionen zeigen beide aber noch ganz andere und überraschende Facetten.

Im Rhythmus der rastlosen Mädchengruppe

Marion Desseigne Ravel begeistert uns für ihre Protagonist*innen. Der Erzählfaden bleibt ihnen in den vorherrschenden Nahaufnahmen durchweg dicht auf den Fersen, und sei es anhand von eingeblendeten – und in neueren Produktionen nahezu unvermeidlichen – Chatverläufen. So vielschichtig wie der Blick auf jene Persönlichkeiten ist auch das Spiel mit dem Erzähltempo. Häufig folgt der Film dem Rhythmus und dem Lebensgefühl der rastlosen Mädchengruppen, ohne sich ihrem Milieu anzubiedern.

Nicht nur die subtil eingefangene Liebesgeschichte macht den Film interessant. Auch der Blick auf die Sphäre(n) von Migrant*innen in Pariser Trabantenstädten hat seinen Reiz. Deren öffentliche Wahrnehmung ist gemeinhin noch immer mit den klassischen Attributen eines Brennpunktviertels behaftet: Kriminalität, Chaos und Trostlosigkeit.

Die Regisseurin setzt stattdessen auf Zwischentöne und eine unaufgeregte, den Fokus erweiternde Sichtweise. Die soziale Not und das prekäre Dasein vieler Familien schwingt mit, ist aber nicht tonangebend. Ihre Beiläufigkeit macht diese Nuancen umso wirkungsvoller.

Sprachlosigkeit zwischen Generationen

Zum Beispiel, wenn Nedjmas alleinerziehende Mutter gerädert von der mutmaßlich mies bezahlten Arbeit die kleine Wohnung betritt und sich mit der Befürchtung plagt, schon wieder für eine Sonntagsschicht einspringen zu müssen. Ansonsten bleibt die Elterngeneration außen vor. „Besties“ wirft damit ein Schlaglicht auf die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen in einem schwierigen Umfeld.

In oftmals spröden, aber intensiven und am sozialen Realismus orientierten Bildern erzählt dieses Langfilmdebüt von wie ein permanenter Kampf anmutenden Daseinsformen. Viele der Auftretenden lassen sich auf diesen Kampf ein und wollen ihre Würde oder ihr Ansehen bewahren. Was wiederum Verirrungen mit sich bringen kann. Auch Nedjma und Zina kämpfen, und zwar um ihre Liebe. Was dieser Kampf mit ihnen macht, führt uns Marion Desseigne Ravels kraftvoller Film mit einer mitunter schroffen, aber niemals plakativen Direktheit vor Augen.

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