Kultur

Ballett gegen die Nazis

von Gisela Sonnenburg · 4. November 2011
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So wird man in öffentlichen Räumen auftreten, die nur selten der Kunst zugeneigt sind. In Ladenpassagen und Gefängnissen, in Krankenhäusern und Altersheimen. Auch mal im Theater. Aber vorzugsweise sollen die international gemischten, hoch motivierten Jungtalente, von denen keines älter als 23 Jahre alt ist, etwas entwickeln, das absolutes Neuland ist: Ballett als Avantgarde, in der die Tänzer zugleich Choreografen sind. "Botschafter des Tanzes" nennen sie sich.

Der erste Auftritt außerhalb geschützter Räumlichkeiten findet am 11.11. im Hamburger Rathaus statt. Die "Nacht der Jugend" dort widmet sich dem Nachdenken über die "Reichspogromnacht" der Nazis am 9. November 1938. Ballett gegen die Nazis, geht das überhaupt? - Und wie. Patrick Eberts, 18 Jahre alt, wurde an der Ballettschule in Hamburg ausgebildet und ist nun eines der Tanz- und Choreografie-Talente vom BJB. "Ich fand es prinzipiell nicht schwer, was zum Thema zu machen", sagt er. Aber: "Mit tänzerischen Mitteln das darzustellen, was geschichtlich gesehen damals passiert ist, ist natürlich nicht einfach."

Er sah sich Filme an, ging in die Bibliothek. Und entwickelte ein Konzept für zwei Tänzerinnen und drei Tänzer. Ein Mädchen erzählt darin tänzerisch, von heute aus gesehen, Folgendes: Ein junger Nazi hadert mit sich, will sich eigentlich aus dem Gewaltregime lösen. Er weiß aber, dass das auch für ihn gefährlich ist. Als zwei Soldaten ein Mädchen schwer misshandeln, will er erst eingreifen, wird dann aber selbst Teil der Schuld - und sogar zum Haupttäter.

Das klingt wie das Drehbuch für einen Thriller. Aber Patrick hat daran gedacht, dass er alles mit Bewegung und Körperlichkeit szenisch illustrieren wird. Die Musik von Alva Noto, die er wählte, knallt mit harten, elektronischen Rhythmen Aggression in den Raum. Dennoch wird am Schluss vermutlich eine starke Betroffenheit im Publikum schweben. Patrick Eberts hat so die Chance, Tanzgeschichte zu machen: Brisante politische Themen sind bisher nämlich äußerst rar in der Ballettszene.

2,8 Millionen Euro darf das BJB, das zudem 50 000 Euro Starthilfe von der Hamburger Kulturbehörde erhält, in den kommenden vier Jahren kosten, Tourneen inklusive. Das Staatsministerium für Kultur finanziert das Projekt, welches auf einer Idee des Jahrhundertchoreografen John Neumeier beruht. Sein ehemaliger Solotänzer Yohan Stegli, ein Franzose, trainiert als Ballettmeister die Jugendtruppe. Er hilft auch, wenn auswärtige Choreographen mit den Youngstern arbeiten - damit die oft schwierigen modernen Kunstbewegungen geschmeidig und ausdrucksstark gelingen.

So, wenn die mit hübschen Kurven gesegnete BJB-Tänzerin Winnie Dias Pinto - sie stammt aus Brasilien - mit dem extra angereisten kanadischen Choreografen Robert Binet probt. Die Musik ist von Franz Schubert, das Stück kreist um Liebeskummer und Sehnsuchtsgedanken. Weich fließend muss Winnies Körper wirken, obwohl die technischen Raffinessen, die sie in Spitzenschuhen zu bewältigen hat, nicht eben locker zu nehmen sind.

"Nein", schaltet sich Stegli ein, "schau mal, das hier ist nicht wie bei Waganowa." Agrippina Waganowa erfand die berühmteste russisch-klassische Ballettmethodik. Diese wird überall auf der Welt gelehrt, auch Winnie wurde im Waganowa-Stil ausgebildet. Aber für die Kunst ist Technik pur nicht ausreichend. Stegli macht vor, was er meint: Sein rechter Fuß schiebt sich elegant und anmutig von hinten vors Standbein, das Knie wird dabei etwas angehoben und gedreht, dann wird der Fuß blitzschnell ausgestreckt. "So geht das!"

Winnie macht es nach und sieht dabei bildschön aus. Den Kniff mit dem Knie kennen vor allem Tänzer aus Übersee: Dort rief der Choreograf George Balanchine sowohl das New York City Ballet als auch das American Ballet Theatre nebst eigener Schule ins Leben. Er selbst war Waganowa-Schüler. Doch er erfand einen neuen Stil: die Neoklassik. Der künstlerische Leiter vom BJB, Kevin Haigen, lernte in Balanchines Schule dessen Tricks und Tipps. Die entwickelte er weiter und unterrichtet schon seit zwanzig Jahren mit viel Charisma Hamburgs Ballettschüler.

Yohan Stegli, der besonders geistreich mit den Jugendlichen umgeht, ist ein Ex-Schüler von Haigen. Gemeinsam baldowerten sie die Konzeption vom Bundesjugendballett aus: "Wir haben den Anspruch, das produktivste Tanzensemble Deutschlands zu werden", sagt Stegli augenzwinkernd. Tatsächlich probt das BJB viel Verschiedenes und entwickelt ständig neue - darunter experimentelle, im Kollektiv entstehende - Tänze. Der organisatorische Leiter, Lukas Onken, ist stolz auf die Vielfalt in Eintracht: "Alle Mitglieder haben die Projektidee verinnerlicht." Auftritte beim Festival "Heidelberger Frühling" 2012 sind denn auch fest eingeplant, auch getanzte Besuche in einem süddeutschen Knast wird es geben.

"Wir haben aber noch Termine frei", sagt Onken. Stadttheater und Opernhäuser können, wie Schulen, Hospitäler, Vereine und Universitäten, die ungewöhnlichen jungen Leute für Gastspiele buchen. Soziale Zwecke sind willkommen, aber kein Muss. Kongresse, Modenschauen, Charity- oder Bildungs-Events wären auch gute Gelegenheiten für diese neuartigen Shows. Kreationen nach Maß sind hier sozusagen Standard - was für ein hohes Maß Realismus im künstlerischen Selbstverständnis spricht.

Vielleicht wird das BJB ja sogar mal seinem Patron, John Neumeier, einen Choreografie-Auftrag erteilen oder ihn um die Neu-Einstudierung eines bekannten Werks bitten. Etwa "Songfest" oder "Age of Anxiety" von Leonard Bernstein. Ballett-Insider freuen sich drauf.

Die "Nacht der Jugend" mit dem Bundesjugendballett findet am 11. November um 19 Uhr im Hamburger Rathaus statt. Der Eintritt ist frei!

Wer das BJB buchen mag, erreicht Lukas Onken unter Tel. 040 - 2111 88 23.

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