Kultur

Aussteiger oder vom unfriedlichen Frieden auf dem Lande

von Dorle Gelbhaar · 20. Oktober 2008
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Mit dem Ausstieg aus der Ehe beginnt das Ganze. Die Hauptfigur des Buchs, Lektorin in einem Berliner Kunstverlag und frisch geschieden, hat ein Kind und gute Freunde, die ihr über die erste Zeit nach der Trennung mit einem Ausflug ins Uckermärkische hinweghelfen wollen. Es ist der Pfingstsonnabend des Jahres 1984. Die Reise wird als Fahrt in die Idylle beschrieben. Landschaftliche Schönheit wie aus dem Reiseprospekt. Gastgeberin Annabella, eine Malerin, empfängt Mutter und Kind liebevoll.

"Abhärtung"
Annabellas Gefährte Divo ist ein Sinto (Riese in der Sprache der Sinti) und fühlt sich nach Diskriminierungen in der Kindheit "abgehärtet". Die erste Störung der Idylle tritt auf, als er nach erheblichem Rotweinkonsum einen gewaltigen Wutausbruch bekommt. Die anderen versuchen den Stärkeren zu bändigen und fliehen schließlich. Der Philosoph Robert, der aus politischen Gründen nicht mehr an der Universität sein darf, verdächtigt Annabella, sie ermuntere ihren Freund zum übermäßigen Alkoholgenuss. Denn sie genieße die Ruhe des Alleinseins, wenn Divo nach seinen Wutausbrüchen im Knast oder in der Psychiatrie lande.

Vom Absturz eines klaren Weltbildes
Der zum Keramiker gewordene Robert nimmt die Heldin des Buches mit auf seinen "Bauernhof", wo Mutter und Tochter fröhlich töpfern und malern. Danach sieht ihre Kleidung ziemlich bunt aus. Zwei andere Besucher, feine Mercedes-Fahrer, Jung-Ingenieure aus West-Berlin, sehen sie deshalb recht kritisch an. Die Bitte, Mutter und Tochter mit nach Berlin zurückzunehmen, erfüllen sie, nachdem Robert eine Decke über die Sitze legt.

Die alleinerziehende Mutter hat kein Auto. Für die Mercedes-Fahrer ist das bei einer Frau um oder über 30 kaum begreiflich. Noch weniger passt es in ihr von den Grenzen bestimmtes Weltbild, dass die junge DDR-Frau den Westen aus eigener Anschauung kennt. Sie war vor 1961 häufig bei ihrem Großvater in Westberlin zu Besuch und ist nicht einseitig geprägt.

Beidseitige Wissensverluste
Die Jungingenieure machen einen tiefen Diener vor der äußerlich proletarisch anmutenden, vom Malen beklecksten Frau, als diese ihnen zum Abschied erzählt, sie lebe in einer 120-Quadratmeter-Wohnung, dort wo "früher die Hofbeamten des letzten deutschen Kaisers gewohnt" hätten. Mit dem Abstand aus heutiger Sicht fügt die Erzählerin hinzu, die beiden Männer hätten nicht geahnt, dass die große mit Öfen zu beheizende Wohnung im Prenzlauer Berg preiswert (90 Mark Miete) und lange nicht so begehrt gewesen wäre wie Neubauwohnungen. Sie hingegen habe nicht gewusst, dass sie im Westen das Dreifache ihres damaligen Gehalts dafür hätte zahlen müssen.

Systemwechsel und Kontinuität
Gesellschaftliche Stellung und Wohnort, auf solche Zusammenhänge wurde die Ich-Erzählerin erst durch Begegnungen dieser Art verwiesen. Ihr war es stets auf das freie Denken angekommen. Die geliebte Uckermark zeigt ihr allerdings Grenzen auf. So als sie zu DDR-Zeiten eine Protestbewegung gegen die Bebauung eines Naturschutzgebietes mit vier Datschen organisierte und plötzlich trotz vorherigem großen Zuspruch seitens der Dorfbevölkerung mit Robert und ihrem Kind allein da stand. Nach dem Ende der DDR wird das Naturschutzgebiet weiter besiedelt, nun sogar mit Einfamilienhäusern.

Geschichte und Schicksal des Dorfes
Nach der Wende wird die Lektorin arbeitslos. Sie findet neue Arbeit in einem deutsch-russischen Projekt, verliebt sich in einen Georgier, erlebt Trennungsschmerz. Ihre Liebe zu dem Dorf im Uckermärkischen und seinen Lebensgeschichten hält vor, trotz kritischen Erinnerns und manch neuerlicher, auch tragischer Entwicklung.

Beeindruckend
Octavia Winkler führt uns zunächst in die Mittachtziger Jahre der DDR hinein. Man meint diese zu fühlen, zu schmecken und zu riechen. Starre Weltsichten lösen sich in der kritischen und liebevollen Sichtung des Alltags auf. Man kann wirklich eine Menge erfahren über die Vor- und Nachwendezeiten im Uckermärkischen.


Octavia Winkler "Vom Leben auf dem Lande. Geschichten aus der Uckermark", Aschenbeck Verlag , Bremen 2008, 104 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3-939401-30-8

Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

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