Die Wiedervereinigung stellt Gerhard A. Ritter als Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dar. Sie wurde improvisiert und sie verlangte Krisenmanagement. Klar,
dass da die Regierung ins Zentrum des politischen Handelns rückte. Die beiden anderen Verfassungsorgane, Parlament und Bundesverfassungsgericht, bleiben im Schatten der rechtsliberalen
Regierungskoalition unter Helmut Kohl.
Der wohlwollende Leser könnte dies auch als Grund für die häufige und meist positive Erwähnung von Mitgliedern der CDU/CSU-FDP Regierung sehen. Alternativ macht der Autor die Aussage, dass
der konservativ-korporative deutsche Wohlfahrtsstaat stark von christlich-sozialen Vorstellungen geprägt sei. Demzufolge würden interessierte Experten, wie er selbst, vielleicht auch eher
christlich-sozialen politischen Grundströmungen anhängen.
Solche kleinen Verzerrungen richten den analytischen Blick des Autors aber auch auf die entscheidenden Handlungsträger im Einigungsprozess - für die Bereiche Arbeit und Inneres, Norbert Blüm,
respektive Wolfgang Schäuble und schließlich Helmut Kohl, oft als letzte Instanz im internen Entscheidungsprozess. Dass hier tatsächlich eine glaubhafte Schilderung des sozialen Einigungsprozesses
vorliegt, die sich an den besten Absichten wissenschaftlicher Objektivität ausrichtet, beweist die Fülle von Akten aus Regierung, Parlament, Parteien Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, aus
denen der Autor schöpft.
Das Ende der DDR
Am Beispiel des Runden Tisches, der Oppositionelle und Reformer mit politischem Führungsanspruch in der DDR vereinigte, zeigt Ritter, wie die Institutionen der DDR unter Egon Krenz und Hans
Modrow drastisch an Legitimität und Handlungsfähigkeit verloren. Mauerfall und Reisefreiheit erhöhten den sozialen Druck auf beide deutsche Staaten. Die letzte DDR-Regierung unter Lothar de
Maizière war demokratisch legitimiert. Sie genoss die nicht unerhebliche Unterstützung der CDU-Schwesterpartei im Westen. Dennoch konnte sie letztlich nur noch versuchen, den Druck der Straße in
geordneten Bahnen zur Wiedervereinigung zu lenken.
Beitritt oder Verfassungskonvent
Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach GG. Art. 23 hatte entscheidende Konsequenzen für den deutschen Sozialstaat. Die Ausweitung bundesdeutschen (Sozial-) Rechts wurde damit von der
Volkskammer - der zu diesem Zeitpunkt wirklich demokratisch gewählten Vertretungen der DDR - akzeptiert. Die Alternative eines gesamtdeutschen Verfassungskonvents nach GG. Art. 146, die vor allem
von Vertretern des Runden Tisches befürwortet wurde, hätte mit größter Wahrscheinlichkeiten die schnelle Anwendung bundesdeutschen Rechts verhindert. Ein umfangreicher Beratungsprozess über eine
neue Verfassung und untergeordnetes Recht wäre notwendig gewesen. Ritter arbeitet gut heraus, dass weder in der DDR noch in der BRD für die Vereinigung nach Art. 146 eine Mehrheit existierte.
Sozialstruktur und Sozialisierung im Sozialismus
Welche entscheidenden Unterschiede zwischen Ost und West trotz des gemeinsamen Bekenntnisses zu Einigung und Grundgesetz noch bestehen, belegt Ritter mit vielen Beispielen. Nach Umfragen zur
Selbsteinordnung in Unter-, Mittel- und Oberschicht ergibt sich für den Westen eine zwiebelförmige Gesellschaftsstruktur, mit der Mehrheit in der Mittelschicht, und im Osten eine Pyramide, mit der
Mehrheit in der Arbeiter und Unterschicht. Die Einschätzung im Osten bezeichnet der Autor "(…) als Nachwirkung der Hochschätzung der Arbeiterschaft in der offiziellen Ideologie der DDR, jedoch auch
als Ausdruck des Gefühls im Vergleich mit der westdeutschen Bevölkerung unterprivilegiert zu sein."
Hierin, so Ritter, läge der in Ostdeutschland vielfach vorhandene Anspruch auf staatliche Fürsorge begründet. Jenseits der tatsächlich besser gewordenen materiellen Lage hat sich der Vorwurf
der sozialen Kälte in der Bundesrepublik verfestigt - nicht nur im Osten. Weit entfernt davon die DDR zurückzusehnen, wird die Forderung an den Sozialstaat bleiben, Härten abzufedern und den
wirtschaftlichen Konkurrenzkampf nicht zum Kannibalismus verkommenen zu lassen. Insofern wird die eng Verknüpfung der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde mit sozialer und wirtschaftlicher
Sicherheit weiter eine politische Forderung bilden.
Dieser politische Prozess um Werte, der vor allem im sozialen Bereich so schwer fassbar ist, wird in diesem Buch umfassend dargestellt. Es leistet damit einen wichtigen Beitrag zum
Verständnis der Grundlagen und Grenzen zukünftiger Politik, vor allem im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Ein gutes Beispiel hierfür ist das klar herausgearbeitete Scheitern aktiver
Arbeitsmarktpolitik als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, was durch das Fehlen eines selbst tragenden Wirtschaftsgeflechts im Osten Deutschlands begründet wird. Andererseits unterstreicht Ritter
aber auch, dass die expansive Sozialpolitik in der Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs die Umstellung erleichterte und somit wohl einen sozialen "Flächenbrand" verhinderte.
Thomas Hörber
Gerhard A. Ritter: Der Preis der deutschen Einheit - Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, C. H. Beck, München, 2006, 541 Seiten, 38 Euro, ISBN 3-406-54971-1
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