Europas Eliten können sich warm anziehen. Das ist der erste Gedanke, wenn in Inigos Westmeiers Dokumentarfilm „Drachenmädchen“ tausende chinesische Rothemden brüllend, aber präzise wie ein Ameisenstaat auf die Kamera zurasen. Gibt es ein stärkeres Bild für den aufstrebenden Riesen in Fernost als diese Kung-Fu-Schüler? Oder erliegen wir unseren Klischees?
Westmeier weiß um die suggestive Kraft solcher Szenen, setzt sie daher sparsam ein und bricht sie mit starken Kontrasten, die ein weniger zackiges China zeigen. Im jahrelangen Drill werden die Jungen und Mädchen an der privaten Shaolin Tagou zu sportlichen Höchstleistungen angetrieben. Mit 26 000 Schülern ist das kasernenähnliche Institut in der zentralchinesischen Provinz Henan das größte seiner Art in China. Jene Absolventen, die Bestleistungen in Ausdauer, Disziplin und Kampfeskunst hinlegen, sind die heißesten Kandidaten für eine Karriere in Polizei oder Armee. Und wenn nicht, werden sie zumindest für den alltäglichen Konkurrenzkampf im Berufsleben gestählt. Genau in dieser Hoffnung übergeben die oftmals bettelarmen, Eltern ihre Kinder der berühmten Kung-Fu-Schule.
Was macht dieses Leben mit den Kindern? Arbeiten sie wirklich nur daran, eine erfolgsversessene Kampfmaschine zu werden oder träumen sie davon, wovon alle Kinder träumen? Wie viel Selbstbehauptung ist in diesem System aus maximaler Inanspruchnahme rund um die Uhr und drakonischen Strafen möglich?
Westmeier hatte sich für seinen Blick hinter die Kulissen der Eliteschule viel vorgenommen. Erst recht in einer Gesellschaft, in der es oberstes Gebot ist, sein Gesicht zu wahren. Schwäche zu zeigen ist in weiten Kreisen verpönt. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, unter den kritischen Augen und Ohren der treuen Begleiter von der Obrigkeit drehen zu müssen – im Reich der Mitte freilich gang und gäbe. „Wir sind eine große harmonische Gemeinschaft und festigen dadurch die kollektive Mentalität“, fasst Schulleiter Liu Heike den Geist seines Hauses im besten Marketing-Konfuzianismus zusammen.
Vor diesem Hintergrund fördert „Drachenmädchen“ Erstaunliches zutage. Und zwar im doppelten Sinne: Der Film kehrt die Individualität der Kinder gerade vor dem Hintergrund jenes engen moralischen Korsetts, das durch die Trainingsbedingungen noch weiter verschärft wird, nach außen. Zugleich wird deutlich, dass und wie sich manche ihrer Altersgenossen ihren Eigensinn bewahren – bis hin zur Flucht vor den rabiaten Trainern und dem monotonen Alltag.
Alltäglicher Chauvinismus
Westmeier stellt ganz bewusst die Geschichte von drei Mädchen in den Vordergrund: Schließlich kommt auch in seinem Film jener abschätzige Blick auf weiblichen Familienzuwachs zur Sprache, der in der alten chinesischen „Weisheit“ gipfelt, wem kein Sohn geschenkt wird, muss in seinem bisherigen Leben gesündigt haben. Auch in der Shaolin Tagou bleibt manches dem männlichen Part vorbehalten: zum Beispiel kamerataugliche Massenaufmärsche.
2000 Schülerinnen sollen für die Dreharbeiten gecastet worden sein. Übrig blieben drei Persönlichkeiten, die für die verschiedenen Wege stehen, mit dem jahrelangen Drill umzugehen. Und auch damit, mehr als 1000 Kilometer von ihren Familien getrennt zu leben. Der Film folgt ihnen bis in die unbeheizten Schlafkammern in ihrer Schule und die armseligen Behausungen ihrer Familien in sterbenden Dörfern. Alle drei Lebensläufe berühren auf ihre Art. Ihre Essenz ist darin zu finden, wie die Mädchen auf die jahrtausendealte Kampfsportkunst blicken.
„Tränen sind Ausdruck von Unfähigkeit“, sagt Xin Chenxi. „Man muss sich der Situation stellen.“ Mit dieser erschreckend abgeklärten Einstellung hat es die Neunjährige bereits ins Eliteteam geschafft. Scheinbar ungerührt wirbelt sie in der vollbesetzten Wettkampfhalle mit dem Schwert durch die Luft, um punktgenau und makellos auf der Matte zu landen. Der armseligen Existenz ihres Melonen verkaufenden Vaters zu entkommen, scheint ihr Hauptantrieb zu sein.
Nichts als Herumgefuchtel
Chen Xi bricht hingegen für einen kurzen Moment in Tränen aus. Zu groß ist der Leistungsdruck, zu stark die Sehnsucht nach Familie und Freiheit. Andererseits hält sich die 15-Jährige immer wieder den Wortsinn des Begriffs Kung-Fu vor Augen: „Kung-Fu bedeutet nun einmal harte Arbeit.“ Huang Loulan hat dafür nichts als Spott übrig: „Kung-Fu ist nichts als ein Herumgefuchtel mit Armen und Beinen“, sagt sie. Daraus spricht zugleich Bitterkeit: Die 17-Jährige war aus der Schule zu ihrem Vater nach Shanghai ausgebüxt. Wenige Zeit später fand sie sich in der Shaolin Tagou wider. Dort erwarteten sie Schäge und weitere Schikane.
Diese und anderen dunklen Seiten jener Eliteschule werden nur angerissen. Gerade hier hätte man sich gewünscht, Westmeier hätte sich von seinem engen Fokus gelöst und Stimmen von außen ins Boot geholt. Unabhängig davon ist das, was „Drachenmädchen“ ans Tageslicht zerrt, nicht minder beeindruckend und erschreckend.
Info: Drachenmädchen (Deutschland 2011/2012), ein Film von Inigo Westmeier, 90 Minuten