Kultur

Aufrechter Gang in Stalins Lagern

von ohne Autor · 4. Mai 2011
placeholder

Es ist ein vertrautes Muster bei Großproduktionen zu Schicksalen der Zeitgeschichte: Je idyllischer der Einstieg, desto schneller schrillen die Alarmglocken. Jeder weiß: So wird, so kann es nicht bleiben. So ist auch das Familienglück der Ginzburgs trügerisch: Eben noch tobt man mit den Kindern im Ehebett, wenige Szenen später gerät Mutter Evgenia in die Mühlen der Denunziations- und Verfolgungsmaschinerie jener Zeit.

Manche Biografien sind so unfassbar, dass sie jeden Erzählrahmen sprengen. Sie bieten derart viel Extreme, Dramatik und Widersprüche, dass man sich fragt, wie sie sich zwischen zwei Buchdeckel pressen, geschweige denn in einem 90-minütigen Leinwanddrama abbilden lassen. Gerade im zweiten Fall erscheint die Versuchung der Stilisierung unwiderstehlich: Große Emotionen, bombastisch inszeniert, um einen Zugang zu radikalen Erfahrungen zu schaffen, die aus Sicht ängstlicher Produzenten die Vorstellungskraft des Publikums überfordern könnten.

Verkleisterte Gefühle
Auch "Mitten im Sturm" bedient sich in weiten Teilen dieser verkitschten Didaktik. Pikanterweise hat man sich mit Emily Watson eine Hauptdarstellerin ausgesucht, die ihren Ruhm vergleichsweise schwer verdaulichen Produktionen wie "Breaking The Waves" verdankt. Allzu verlockend ist es, sich die Geschichte der Evgenia Ginzburg im Gewand eines Independent-Films auszumalen. Denn hier offenbart sich, wie starke Effekte den emotionalen Kern und die guten Absichten eines Films verkleistern statt unterstreichen. Braucht es etwa schluchzende Geigen und dramatische Sonnenuntergänge über dem Wachturm, um sich von Evgenia Semionovna Ginzburgs Leben - es währte von 1904 bis 1977 - packen zu lassen?

Wohl kaum! 1937, als der Terror seinen Höhepunkt erreicht, wüten die Verhaftungswellen in Ginzburgs Kasaner Hochschule. Schließlich wird auch die überzeugte Kommunistin Ginzburg abgeholt. Sie teilt das Schicksal von Millionen. Doch ihr Lebensweg ist ein eindrucksvolles Beispiel für die mühevolle Selbstbehauptung gegenüber der Gewaltherrschaft: nicht nur als Intellektuelle, sondern als Mensch.

Die Literatur-Professorin und Journalistin übersteht die Folter im Moskauer Geheimdienstknast ohne ein Scheingeständnis zu unterschreiben. Ihre Verurteilung zu zehn Jahren Arbeitslager im Fernen Osten ist für sie eine Erleichterung: Hauptsache weiterleben!

Ihr Tagebuch, die Poesie und gelebte Solidarität geben Ihr die Kraft, auch die ärgsten Strapazen zu überstehen, wie etwa die brutale Zwangsarbeit und den Verlust der Familie. Ein neues Glück findet sie mit dem russlanddeutschen Lagerarzt Anton Walter (im Film gespielt von Ulrich Tukur). Ihre Liebe wird die Wirren des Lagers überdauern. Vor der Rehabilitierung im Jahr 1955 wird sie erneut verhaftet und für mehrere Jahre verbannt. In autobiografischen Schriften beschreibt sie das Leben in der Sowjetunion. Doch die Erinnerungen an den Gulag erscheinen erst 1988 legal in ihrem Heimatland.

Emily Watsons Blick sagt alles
Auch wenn die Handlung von "Mitten im Sturm" nur bis Ende der 40er-Jahre reicht: Ein einziger Blick in Emily Watsons Gesicht genügt, um die Last jener Bürden nachzufühlen, die Evgenia Ginzburg Zeit ihres Lebens durchlitten hat. Wenngleich man sich fragt, wie ihre Haut nach jahrelangem Lagerleben so wunderbar zart bleiben kann. Wie schon in "Breaking The Waves" entfaltet sich die unglaubliche Wirkung von Emily Watsons Spiel in nahezu ungefilterter Menschlichkeit, in deren Vitalität und Fragilität. Diese scheinbare Natürlichkeit lebt von sparsamen Gefühlsausbrüchen, die mehr erahnen lassen als sie zeigen. Es ist ein meist stoisch, aber nicht weniger intensiv dargebotenes Ringen zwischen Überlebenswillen und Resignation. Kaum jemand kann diesen Spagat so durchdringend verkörpern wie diese Evgenia, wenn sie auf der umzäunten Erde kauert und spricht: "Wir leben in Zeiten, wo man sich schwer vorstellen kann zu leben. Eher können wir uns vorstellen zu sterben."

Es gehört zu dem besonderen Reiz dieses Films, dass man meint, Emily Watson würde mit diesem geerdeten Stil gegen die auf Effekt getrimmte Produktion anspielen. Zum Glück steht ihr Ulrich Tukur zur Seite. Als (selbst-)ironischer Lagerarzt entspricht er, ebenso wenig wie Evgenia, dem Klischee eines makellosen Helden. Aus ihm spricht eine tiefe Humanität, die ihn nicht davon abhält, sich mit weniger humanen Kräften einzulassen, wenn es dem Wohl seiner Schützlinge dient. Angenehmerweise agiert auch Tukur eher zurückgenommen. Indem er seine Lust am bisweilen arg burlesken Spiel unterdrückt, gewinnt seine Figur an Ausdruckskraft. Wahre Menschlichkeit kommt eben von innen.

Info:
Evgenia Ginzburgs Erinnerungen an den Gulag wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen sie in den beiden Teilbänden "Marschroute eines Lebens" und "Gratwanderung".

Mitten im Strum/Within The Whirlwind (Deutschland, Belgien, Frankreich 2009), Regie: Marleen Gorris, Drehbuch: Nancy Larson, mit Emily Watson, Ulrich Tukur, Ian Hart, Lena Stolze u.a.
Kinostart: 5. Mai
Mehr Informationen unter www.mittenimsturm-derfilm.de

Verlosung:
Zur Filmpremiere verlost vorwärts.de fünfmal eine Ausgabe des Pulitzerpreis gekrönten Buchs "Der Gulag" von Anne Applebaum. Wer ein Buch haben möchte, schreibt eine E-Mail mit dem Stichwort "Gulag" an online@vorwaerts.de.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare