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Und alle haben, so scheint es, etwas zu sagen: Aktivisten und Mitläufer, Politologen, Soziologen, Historiker, Zeitzeugen und Nachgeborene. Vielfältig ist die Melodie: von selbstkritisch zerknirscht über wütend abtrünnig, ironisch distanziert, sehnsuchtvoll nostalgisch, altersmild schönfärbend bis zu messerscharf analytisch, oder beckmesserisch besserwissend.

Die Rache der Konservativen

Unversöhnt rachsüchtig melden sich Konservative jeglicher Provenienz zu Wort und machen die 68er für nahezu allen Unbill der Jetztzeit verantwortlich. "Fußpilz, Kindermangel, Pornografie, Gewaltkriminalität, Dosenpfand - an allem sind die 68er schuld", höhnt darüber der "Stern" im November 2007. Der Chefredakteur von "BILD" Kai Diekmann widmet ihnen sogar ein ganzes Buch: "Der große Selbstbetrug". Er kanzelt die 68er ab, sie stünden für "Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit". Markus Söder, ehemaliger CSU-Generalsekretär und neuer bayerischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten findet gar: "Die APO-Opas und Alt-68er haben deutsche Tugenden verschmäht und das Land in eine geistige Krise geführt. Dadurch sind wir im internationalen Wettbewerb schlechter geworden. Das ist selbst im Fußball zu beobachten." Man ahnte es schon, der Keim zum Niedergang des deutschen Fußballs wurde gelegt, als Paul Breitner mit der Mao-Bibel zum Training der deutschen Nationalmannschaft erschien und sich auch noch so fotografieren ließ. Da half es dann auch nicht mehr, dass Breitner in tätiger Reue später als Kolumnist bei "BILD" anheuerte.



Sprühende Funken


Welch amüsante und spannende intellektuelle Funken aus diesem scheinbar ausgelaugten Stoff noch zu schlagen sind, beweist der Auftakt einer Veranstaltungsreihe im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale in Berlin, mit dem Schwerpunkt "Aufbruch '68"? Hermann Glaser präsentierte sein Buch "Die 60er Jahre - Deutschland zwischen 1960 und 1970". Sechsundzwanzig Jahre war der Kulturwissenschaftler als Kulturdezernent seiner Heimatstadt Nürnberg ein Leuchtturm sozialdemokratischer Kulturpolitik. In zahlreichen Büchern und Aufsätzen zu kulturpolitischen und kulturgeschichtlichen Themen hat er entscheidende Beiträge zur kulturpolitischen Profilierung der SPD geleistet.

Der Titel seines neuen Buches macht bereits deutlich, dass Glaser die 68er nicht als singuläres Phänomen interessieren, sondern eingebettet in den Kontext des Davor und Danach, der 50er und der 70er Jahre. In seiner witzigen Einführung streift der Achtzigjährige aphoristisch die 50er Jahre, die Zeit der Nierentische - das Runde als "Absage an das militaristisch Eckige, Zackige der Nazizeit" - und verweist augenzwinkernd auf geschätzte 60 Millionen Hula-Hoop-Reifen, die seinerzeit um die Hüften kreisten. Bereits damals beginnt, was bei den 68ern zum Schlagwort wird: das Hinterfragen. "In den Nachstudios des Rundfunks in den 50ern wird bereits hinterfragt", so Glaser. Von Schelskys "skeptischer Generation" über die "Halbstarken", "Flower Power", Beatniks und Jack Kerouac, Martin Luther Kings "I had a dream", Beatles und Burg Waldeck bis zum "Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung" (NÖSPL) und den Underground-Strömungen in der DDR - locker und unterhaltsam geht es in einer rasanten Tour d'Horizon durch die Etappen der Zeitgeschichte.



Aufregend farbig


Die anschließende Gesprächsrunde mit Tilman Fichter, dessen "Kleine Geschichte des SDS" gerade neu überarbeitet erschienen ist, dem ehemaligen Berliner Kultursenator der Linken Thomas Flierl und dem Historiker Diethart Kerbs, moderiert vom ehemaligen kulturpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Eckhardt Barthel macht deutlich, wieviel Spannendes aus dieser stürmischen Umbruchsphase der deutschen Nachkriegsgeschichte noch zu entdecken und aufzuarbeiten wäre. Das Buch von Hermann Glaser mit seinen vielen zeitgenössischen Fotos bietet einen fantastischen Einstieg in dieses aufregend-farbige Stück der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Und auf die nächste Veranstaltung aus dieser Reihe im Willy-Brandt-Haus darf man gespannt sein.

Hermann Glaser: Die 60er Jahre. Deutschland zwischen 1960 und 1970.

Hamburg 2007, 19,95 €

ISBN 978-3.8319-0286-6

Autor*in
Werner Loewe

ist Mitarbeiter der vorwärts-Redaktion, Geschäftsführer a. D. des vorwärts-Verlags und ehemaliger Landesgeschäftsführer der SPD Hamburg.

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