Die Ungewissheit über Oriols Tod hält ihn, den Franco-Gegner, über Jahrzehnte gegenwärtig in seiner Familie. Im Februar 1939 verliert sich seine Spur in den Pyrenäen; die Familie nimmt an, dass Oriol im Schneesturm umgekommen ist. Die familiäre Rekonstruktion seiner letzten Stunden stilisiert ihn nahezu zum Heiligen - bis sein Großneffe fast siebzig Jahre später auf Indizien stößt, die eine ganz andere Version seiner Geschichte erzählen.
"Viel kann man nicht gegen das Vergessen tun, und trotzdem ist es unbedingt notwendig, dass man etwas unternimmt." Es ist die Überzeugung des Erzählers, die in diesem Satz zum Ausdruck kommt. Auch wenn der Protagonist sich mehrfach überwinden muss, weiter über seinen Onkel zu recherchieren. Denn was er da zu Tage bringt, negiert den Familienmythos auf brutalste Weise. Die Vorstellung vom Klaviervirtuosen, der auf der Flucht vor den Franquisten stirbt, muss der Erzähler durch die grausame Realität ersetzen.
Oriol lebt - dank der Rettung durch einen französischen Ziegenhirten - und fast schon muss man sagen: leider. Denn innerhalb weniger Jahre wandelte sich der ehemalige Widerstandskämpfer zum Räuber wehrloser Flüchtlinge und gar zum Mörder.
Eine ganz andere Bürgerkriegsgeschichte
Wirkt der Roman im ersten Teil wie eine typische Heldengeschichte, so wird diese bereits ab dem zweiten Kapitel systematisch demontiert und ins Gegenteil gewendet. Die Familiengeschichte entwickelt dabei einen Sog, der den Leser wie ein Krimi mit sich reißt. Eindrucksvoll schildert der Autor Jordi Soler, wie viel Überwindung es den Erzähler kostet, derartige Verbrechen in der eigenen Familie aufzudecken: "Sobald ich morgens aufwachte, musste ich an ihn denken, an die Schandtaten, die er im Wald begangen hatte, ... an den schrecklichen Mord, dessen er schuldig war, und irgendwann fühlte ich mich von all dem Hin und Her regelrecht krank, wenigstens in moralischer Hinsicht".
Die Erinnerungsarbeit, die der Erzähler hier leistet, dient aber nur zum Teil dem Aufdecken der Familiengeschichte. Für ihn ist es auch ein Weg, mit der Vergangenheit abzuschließen. Zeit seines Lebens war der Großonkel präsent in seinem Leben, in den Geschichten des Großvaters, der Familie. Indem er sich schließlich dazu überwindet, ihn persönlich zu treffen, kann der Großneffe die Episode endlich abschließen: Denn ohne ein Treffen, so seine Erkenntnis, bliebe die Geschichte für immer unvollendet.
Auf der Suche nach der Wahrheit
Der Autor Jordi Soler, 1963 in La Portuguesa, Mexiko, geboren, ist selbst Enkel spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge. Die Erlebnisse seines Großvaters nach Ende des Spanischen Bürgerkriegs schrieb Soler bereits in seinem Roman Los rojos de ultramar (2005) nieder, seitdem sind Flucht und Exil ein wiederkehrendes Motiv seiner Romane.
Mit "Das Bärenfest" ist dem Schriftsteller nun eine ganz andere Geschichte über den Spanischen Bürgerkrieg gelungen. Verdrängtes und Verborgenes deckt Soler dabei unerschrocken und ergreifend auf. Der Roman über die menschlichen Abgründe rechnet aber auch mit der Tendenz ab, Opfer der Geschichte im Nachhinein ungeprüft zu idealisieren. Denn die Tatsache, auf der Seite der Guten gekämpft zu haben, führt nicht immer zu den richtigen Schlüssen.
Jordi Soler: Das Bärenfest. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Knaus Verlag, München 2011, 224 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3813503876