Die Veröffentlichung von Helmut Schmidts Buch "Auf dem Weg zur deutschen Einheit" wird wohl in den Schatten der aktuellen politischen Ereignisse fallen. Die Bundestagswahl hat uns und die
  Medien so beschäftigt,
  
dass dem Jubiläum, das wir am 3. Oktober feiern werden,
  
bisher kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
  
Nun sind 15 Jahre gewiss nicht so bedeutend, wie zum Beispiel das
  
zehnjährige Jubiläum, das wir am Brandenburger Tor mit den Größen
  
der Weltpolitik zur Zeitenwende von 1989/90 feierten.
  
Aber hat sich die Sache mit der Einheit etwa seitdem erledigt?
  
Sind wir schon so weit, dass sich wegen zunehmender
  
Fortschritte beim Aufbau Ost und wachsender Selbstverständlichkeit
  
des Zusammenlebens das Gedenken nach und nach erübrigt?
  
Das Thema Aufbau Ost spielte im gerade zurückliegenden
  
Wahlkampf zunächst kaum eine Rolle. Keine der Parteien
  
unterbreitete spektakuläre Vorschläge - bis es zu den fatalen
  
Äußerungen von Schönbohm und Stoiber kam. Dabei hatten
  
beide nur einmal laut gedacht. Jenseits aller Sprachregelungen
  
und Floskeln offenbarten sie allerdings, welch abgrundtiefe
  
Vorurteile die Sicht auf den Osten noch immer prägen.
  
Schönbohm mochte das hinterher noch Leid tun,
  
die Stoiberschen Äußerungen, wenn sie denn
  
auf den bayerischen Wähler zielten, gingen schon davon aus,
  
dass sich damit mehrheitsfähige Ost-Antipathien mobilisieren ließen.
  
Das Tabu war ungewollt gebrochen - und egal,
  
ob es der eigenen Kandidatin damit an den Kragen ging -
  
die politische Brisanz des Ost-West-Themas war plötzlich wieder da.
  
Wer nach den Ursachen fragt, wird in Helmut Schmidts Analysen
  
seit der Wende vor allem einen roten Faden finden:
  
die anhaltende Misere des Ostens als ein ökonomisches Problem
  
von Anfang an und deshalb das Land auch mental weiter trennend.
  
Helmut Schmidt schreibt im Vorwort unumwunden:
  
"Ich bin mit dem Erreichten keineswegs zufrieden.
  
Wenngleich kein Marxist, so wusste ich doch immer,
  
der Lehrsatz, nach dem das ökonomische Sein das Bewusstsein
  
bestimmt, enthält zwar nicht die ganze Wahrheit, aber doch
  
eine psychologisch und politisch höchst wichtige Einsicht."
  
Helmut Schmidt hat in den Jahren seit 1989 sein unbedingtes Ja
  
zur deutschen Vereinigung immer mit der Frage nach dem
  
Wie der Wiedervereinigung der beiden über 40 Jahre getrennten
  
Volkswirtschaften verbunden.
  
Das ist die große Linie, die sich durch Helmut Schmidts Beiträge zieht.
  
Das beginnt mit dem besorgten Ruf an die DDR-Bürger
  
im Dezember 1989, die durch Umsicht, Beharrlichkeit und Geduld
  
errungene Freiheit nicht zu gefährden, trotz zunehmender
  
ökonomischer Schwierigkeiten
  
("Eure wirtschaftliche Lage wird sich zunächst verschlechtern").
  
Er fügt dem damals hinzu:
  
"Vertraut auf unsere Hilfsbereitschaft. Sagt, was Ihr braucht."
  
Was für eine Zeit, welch ein Anfang! Ich kann es bezeugen!
  
Getragen vom gleichen Geiste, Helmut Schmidts Rede
  
am 12. Februar 1990 auf dem Marktplatz von Rostock:
  
"Solidarität ist unteilbar."
  
Aber hier schon mahnende Worte, "schrittweise" voranzugehen.
  
"Die Schritte dürfen nicht zu groß sein, denn
  
wenn man mal einen falschen Schritt macht …
  
dann werden davon möglicherweise Zigtausende Menschen
  
betroffen - und es ist schwer, ihn rückgängig zu machen" (Seite 30).
  
"Die sieben Kardinalfehler der Wiedervereinigung",
  
nicht mehr reparable Fehler, sah Helmut Schmidt schon
  
1993 bei den Regelungen der Währungs-, Vermögens-,
  
Eigentumsfragen (Seite 119-126).
  
Immer mehr rückt dann ein anderes Problem
  
ins Zentrum seiner Kritik und bestimmt viele seiner Vorschläge:
  
die Übertragung des westdeutschen Rechts- und Paragraphenwesens
  
auf den Osten als Hemmschuh der ostdeutschen Entwicklung
  
und Lähmung der Initiative. Man denke dabei an den
  
ersten seiner Ratschläge an die Ostdeutschen -
  
"Habt keine Angst vor dem Gespenst Kapitalismus … denn nichts kann …
  
geschehen ohne den Willen der von Euch frei gewählten Volksvertreter"
  
(Seite 17) und ahnt, dass dieser frühe Rat von 1989 auch zu spät kommt,
  
weil der Pfad der Ausnahmeregeln ausgetreten ist.
  
Ein "Paukenschlag für den Osten" (2001) müsste vor allem
  
auch im Westen Gehör finden. Darauf zielt jedenfalls die besorgte,
  
wie leidenschaftlich vorgetragene Bilanz Helmut Schmidts.
  
"Statt eines Nachworts" nennt er sie trotzig:
  
"Es ist noch nicht zu spät".
  
Immer noch habe aber "die große Mehrheit der Deutschen
  
nicht verstanden, dass die Zukunftsfähigkeit unseres Landes
  
entscheidend davon abhängen wird, ob es und wie schnell es
  
uns gelingt, im Osten des Vaterlandes annähernd gleiche
  
ökonomische Bedingungen herzustellen wie im Westen" (Seite 218 f.).
  
Ohne weitere wirtschaftspolitische Anstrengungen bliebe der Osten
  
"auf lange Zeit eine Krisenregion … die gesamtdeutsche
  
finanzpolitische Kalamität würde nicht behoben
  
- und Deutschland bliebe weit hinter
  
seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit zurück".
  
Wer es nicht wahrhaben will, lese alle Argumente nach
  
und wird erkennen, dass das ostdeutsche Problem zum
  
Problem ganz Deutschlands geworden ist.
  
Von Wolfgang Thierse
  
Wolfgang Thierse ist Bundestagspräsident
  
und stellvertretender SPD-Parteivorsitzender.
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