Wohin treibt die Bundesrepublik? Unter dieser Chiffre analysierte der Philosoph Karl Jaspers einst die Chancen und Risiken der Nachkriegsdemokratie. Knapp 20 Jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten bleibt Jaspers' Frage aktuell, vor allem im Hinblick auf die kulturellen Prägungen. Was steckt hinter dem Geist und Selbstbild der "Berliner Republik"? Welche Folgen haben die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile, die im Web 2.0-Zeitalter an Fahrt gewinnen?
Neue Qualität der Individualisierung
Für Prognosen bedarf es eines soliden Fundaments: Am besten in Form einer Bestandsanalyse die weit genug zurückreicht, um langfristige Entwicklungslinien deutlich zu machen. Diese Konturen zeichnen Axel Schildt und Detlef Siegfried in ihrer beispiellosen Analyse nach. Deren Gegenstand, so fassen es die Autoren zusammen, ist die "tiefgreifende Transformation von einer klassischen modernen Industriegesellschaft mit traditionellen Zügen zu einer postindustriellen Gesellschaft mit weiterer Ausdifferenzierung von Sozialmilieus und einer neuen Qualität der Individualisierung".
Der zugrunde liegende Kulturbegriff ist denkbar weit. Die chronologisch angelegten Kapitel durchleuchten die ästhetischen Dimensionen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, also die politische Kultur und die Alltagskultur. Hinzu kommen die Ausprägungen der Künste inklusive Musik, Architektur und Design. Anstatt kulturelle Phänomene isoliert zu betrachten, formen Schildt und Siegfried daraus ein Geflecht, das die vermeintlich objektiven Bereiche von Politik und Wirtschaft einschließt.
Lebensstil und politische Trends
Beide sehen den kulturellen Wandel nicht etwa als Folge gesellschaftlicher Umwälzungen, vielmehr sei der gesellschaftliche Wandel immer auch Teil des kulturellen. Wenn auch diese These bisweilen aus dem Blick gerät, wird sie doch gerade anhand der Wechselwirkung zwischen Lebensstil und politischen Trends in den (späten) Sechzigern deutlich: Hier zeigt sich, wie sich zunächst ästhetisch motivierte Abgrenzungserscheinungen auf den gesellschaftlichen Mainstream und das politische System auswirkten. Etwa im Fall der Neuen Sozialen Bewegungen, die ihre Entstehung auch jenen Milieus verdankten, die sich anfangs vor allem über alternative Musik und Kleidung definierten. Einige ihrer Kernthemen wie Pazifismus, Umweltschutz oder Geschlechtergerechtigkeit bestimmten ab Mitte der Siebziger Jahre die öffentlichen Debatten mit Folgen bis heute: Ökologisches Bewusstsein wanderte von der linken Schmuddelecke in die Mitte des heutigen Bionaden-Bürgertums.
Manch einer mag sich in den Kapiteln bis zum Jahr 1990 am westdeutschen Fokus stören. Genügt die Bonner Brille, um die Bundesrepublik von heute kulturgeschichtlich zu verorten? Dass die Autoren auf "kulturelle Interaktionen" zwischen Ost und West eingehen oder erklären, "einem der beiden deutschen Wege" nachgespürt zu haben, während der Platz für eine Kulturgeschichte des "ostdeutschen Wegs" frei bleibe, ist lobenswert, dürfte aber nicht jeden kritischen Leser zufrieden stellen. So gesehen ist dieses Buch ein mehr als gelungener Auftakt für eine Bilanz, die es zu vervollständigen gilt.
Axel Schildt, Detlef Siegfried: "Deutsche Kulturgeschichte: Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart", Hanser, ISBN 978-3-446-23414-7, 696 Seiten, 24,90 Euro