Was macht unauffällige Polizisten zu überzeugten Killern? Die Holocaust-Dokumentation „Das radikal Böse“ zeigt, unter welchen Umständen moralische Schranken fallen.
„Nachdem der Abtransport erfolgt war und die notwendigen Vorbereitungen mit Hilfe von 140 Gefangenen getroffen worden waren, wurden insgesamt 3145 Juden registriert und exekutiert. Dem Beauftragten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt in Shitomir konnten ca. 25-30 Tonnen an Wäsche, Bekleidung, Schuhwerk, Geschirr, welche bei der Aktion beschlagnahmt worden waren, zur Verwertung zugeführt werden.“
So steht es in der „Ereignismeldung“ des Reichssicherheitshauptamtes vom 7. Oktober 1941. Es ist eine jener lapidar formulierten Berichte, mit denen die Terrorzentrale des NS-Regimes das Mordwerk der Einsatzgruppen in der Sowjetunion dokumentierte. Kaum minder monströs als die Taten – ein Drittel der von den Nazis ermordeten sechs Millionen Juden starb bei Massenerschießungen – ist der Versuch, sie als einen reibungslos abzuwickelnden Teil einer Mission im Dienst an der Nation darzustellen.
Wie kriegt man einen erbarmungsloser Vollstrecker, peniblen Bürokraten und womöglich liebevollen Vater und Ehemann unter den Hut einer Identität? Seit Jahren beschäftigen sich Historiker und Psychologen damit, wie die rund rund 4000 Angehörigen jener Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD diesen Spagat möglich machten und damit lebten. Auf ihren Erkenntnissen basiert „Das radikal Böse“, der neue Film von Stefan Ruzowitzky. Manch einen dürfte der Titel in die Irre führen: Der österreichische Regisseur und Drehbuchautor setzt jene in der breiten Öffentlichkeit kaum präsente Seite des Völkermords nicht allein mit einer pathologischen Form von moralischer Perversion, also dem Bösen schlechthin, in Beziehung. Vielmehr geht es ihm darum zu zeigen, wie Männer, die sich um ihre Familien an der Heimatfront sorgten, in der Lage waren, mit bestem Gewissen Frauen und Babys zu töten und ganze Dörfer auszulöschen.
Unfassbares verstehen
Er wolle erklären, ohne die moralische Verurteilung der Täter in den Vordergrund zu stellen, sagte Ruzowitzky, dessen KZ-Drama „Die Fälscher“ vor sieben Jahren einen Oscar einfuhr, in einem Interview. Für viele dürfte sein Ansatz eine Provokation darstellen, droht er, oberflächlich betrachtet, doch, die Verbrechen zu entschuldigen oder zu verharmlosen. Derlei Befürchtungen sind grundlos: Ruzowitzkys Film lebt von einer kritischen Empathie, die wichtige Erkenntnisse erst möglich macht.
Er nimmt uns mit an die Orte des Schreckens in Osteuropa. Wir sehen den Männern der Einsatzkommandos dabei zu, wie sie zur nächsten Mordaktion antreten, zum Exekutionsplatz hetzen oder einfach nur vor ihrer Behausung herumstehen. Es ist eine völlig andere Szenerie, als man sie vor allem von Spielfilmen über Nazi-Gräuel gewohnt ist. Anstelle von ständigem Maschinengewehr-Geknatter in düsterer Winterlandschaft erleben wir junge, braungebrannte Männer in sommerlicher Hügelidylle. Zu hören gibt es vor allem die Stimmen in ihren Köpfen: Auszüge aus zeitgenössischen Briefen, Tagebucheinträge und Äußerungen, die die Täter später vor Gericht machten. In denen sie nach vermeintlich guten Gründen für die Morde suchten und keine Spur von Mitgefühl für ihre Opfer zeigten. Es sind absurde bis unerträgliche Zeugnisse, die durch das Off wabern, während die Laiendarsteller schweigend ins Leere blicken.
Diese gleichsam karge und experimentelle Ästhetik schärft den Blick für das Wesentliche: Nämlich für die Frage, was in diesen Menschen, die im medizinischen Sinne keine Psychopathen waren, eigentlich vorging. Und warum sich einige wenige von ihnen dem geplanten Töten verweigerten. Zugleich bewegen wir uns unablässig mitten unter ihnen: Die Kamera bleibt stets auf Augenhöhe, sodass erahnbar wird, was Gruppendynamik und Gruppenzwang für den Einzelnen bedeuten können. Während dieser Szenen fällt kein einziger Schuss: Einzig das sparsam eingesetzte Archivmaterial zeigt jene Taten, um die die Gedanken der Männer kreisen.
Anfällig ist jeder
Als Gegenpol zu dieser Innenperspektive kommen Experten zu Wort, die versuchen, diese Menschen und was sie antrieb, zu deuten: Darunter der Historiker Christopher Browning, dessen Buch „Ganz normale Männer“ über mordende Polizeibataillone wesentliches Futter für diesen Film lieferte und der Psychiater Robert Jay Lifton, der als Begründer der „Psychohistory“ gilt. Sie zeigen, welche fatalen Folgen menschliche Grundtriebe wie der zur Selbsterhaltung in der Gruppe haben können. Den eigentlichen Dammbruch machen aber erst politische Rahmenbedingungen wie unter Hitler möglich. Anfällig für barbarische Exzesse ist demnach jeder. All das schildern die Forscher in kompakten Statements auch im Hinblick auf aktuelle Konflikte, ohne dabei die Singularität des Holocaust infrage zu stellen. Daraus ergibt sich auch die eigentliche Haltung dieses Films: Das Geschehene als Warnung an die Zukunft zu durchleuchten.
Mit seinem Mix aus von elektronischer Musik untermaltem Essayismus und der behutsamen Ausbreitung von Fachwissen steht „Das radikal Böse“ innerhalb der filmischen Aufarbeitung des Holocaust der vergangenen Jahre allein auf weiter Flur. Ruzowitzkys Bildprache und Erzählweise machen sensibel für ein Thema, das manche gerne auf dem Müllhaufen der Geschichte sähen. Tatsächlich ist es beängstigend gegenwärtig.
Info: Das radikal Böse (Deutschland 2013), Buch und Regie: Stefan Ruzowitzky, Kamera: Benedict Neuenfels, mit den Stimmen von Devid Striesow, Nicolette Krebitz, Alexander Fehling, Volker Bruch u. a., 94 Minuten.