Kultur

Auch Politiker unter den Opfern

von Gero Fischer · 16. Oktober 2010
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Benjamin von Stuckrad-Barre war viel unterwegs im Jahr 2009. Er hat so ziemlich jeden Spitzenpolitiker in Deutschland im Wahlkampf begleitet, war bei der nächtlichen Eröffnung eines Elektro-Marktes und zusammen mit Til Schweiger im Kino. Seine Beobachtungen hat er aufgeschrieben und in ein Buch gepackt: "Auch Deutsche unter den Opfern" ist das Ergebnis seiner Rundreise. In über 50 Episoden zeichnet der Autor ein subjektives Bild der deutschen Medienwelt aus dem Jahr 2009.

Politikbetrieb mal anders.

Die Technik ist nicht neu. Schon in seinem Buch "Deutsches Theater" hat Stuckrad-Barre in dieser Form der "literarischen Reportage" seine Begegnungen mit deutschen Persönlichkeiten beschrieben. In "Auch Deutsche unter den Opfern" konzentriert er sich vor allem auf den Berliner Politikbetrieb und das für ihn wichtigste Ereignis im Jahr 2009, den Bundeswahlkampf. Der Autor fährt mit Angela Merkel im Rheingold-Express, begleitet Guido Westerwelle auf Wahlkampf-Partys und Frank-Walter Steinmeier auf seiner Sommerreise.

Stuckrad-Barre ist dabei Kommentator und Chronist zugleich, hält die Ereignisse fest und kommentiert sie auf die ihm typische, leicht überhebliche Art und Weise. Was seine Episoden von der üblichen Berichterstattung unterscheidet und auch im Jahr 2010 noch lesenswert macht: Er stellt die Fragen, die sonst keiner stellt. Dadurch ermöglicht er einen anderen Blick auf schon bekannte Szenen und Ereignisse.

Wie war die Wurst?

Es gibt wohl nicht viele Reporter, die die Bundeskanzlerin auf einer Zugfahrt im Wahlkampf fragen: "Wie war die Thüringer Wurst, Frau Bundeskanzlerin?" Auch wenn die Antwort ("Kalt war se nich. Aber ich sag mal, zu stark gewürzt") nicht unbedingt zur politischen Bildung des Lesers beiträgt, die Berichterstattung von einem Ereignis wie dem Bundestagswahlkampf wird durch derartige Szenen erfrischender, ja normaler. Daneben zeigt Stuckrad-Barre seinen Lesern auch, dass sogar exakt geplante Wahlkampf-Inszenierungen absurd und komisch sein können. Dort nämlich, wo die Professionalität für kurze Zeit dem Spontanen weichen muss. Das passiert in der Regel dann, wenn Politiker und Bürger direkt aufeinandertreffen, wenn zum Beispiel Roland Koch im Wahlkampf mit einer Angestellten eines Einkaufzentrums reden muss:

Sie arbeiten hier?, eröffnet Koch.

Ja.

Mhm - wie lange schon?

Seit viereinhalb Jahren.

Und Ausbildung gemacht, hier bei Rewe?

Ja.

Koch schaut sich um und sieht: Brillenbär Discount-Depot, Reno, kik, Rossmann, einen Münzfernsprecher und einen Geldautomaten. "Ist ein schönes Einkaufzentrum", sagt er.

Mitleid für Politiker

Der Autor selbst bringt an anderer Stelle das Absurde an diesen Situationen auf den Punkt: "Es ist für den Beobachter immer schwer zu entscheiden, wer sich bei diesen um Normalität innerhalb der totalen Künstlichkeit ringenden Gesprächen unwohler fühlt, der Bürger oder der Politiker." Es ist die Kunst von Benjamin von Stuckrad-Barre, diese Situationen zu erkennen und aufzudecken. Seine Beobachtungen bieten eine neue, erfrischende Sichtweise auf Ereignisse und Personen, die man aus den Medien zu kennen gedacht hatte.

Insgesamt kommt die politische Klasse in "Auch deutsche unter den Opfern" nicht besonders gut weg. Von Benjamin von Stuckrad-Barre bekommt sie jedenfalls wenn überhaupt nur Mitleid: "Wenn man Politikern, egal von welcher Partei, am Ende eines Wahlkampftags begegnet, spürt man den Impuls, sie kurz mal in den Arm nehmen und trösten zu wollen."

Benjamin von Stuckrad-Barre: "Auch Deutsche unter den Opfern", KiWi-Verlag, Köln, 2010, 336 Seiten, 14,95, ISBN 978-3-462-04224-5

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