Wo Strukturen verschwinden, bilden sich neue. Der Dokumentarfilm „Am Ende der Milchstraße“ zeigt, wie Menschen in der tiefsten ostdeutschen Provinz ihren Alltag mit verloren geglaubten Prinzipien organisieren.
Die Regisseure Leopold Grün und Dirk Uhlig nehmen uns mit in eine Gegend, wo die Leere viele Gesichter hat. Etwa eine Autobahn, der es an manchen Tagen an Autos mangelt. Willkommen in Wischershausen! Der Landkreis hört auf den idyllischen Namen „Mecklenburgische Seenplatte“. Doch jenes Dorf – 50 Einwohner, kein Laden, keine Kirche, keine Kneipe, kaum Jugendliche, dafür viele Arbeitslose – dürfte für jene, die beim Wort „strukturschwach“ ins Apokalyptische verfallen, gefühltes Sibirien sein.
Uhlig und Grün zeigen uns allerdings weder ein von der Politik verschuldetes Untergangsszenario noch ein Paradies im Verborgenen. Vielmehr porträtieren sie Menschen in ihrem meist ganz profanen Alltag zwischen Schlafzimmer, Dorffest und Kuhstall. Im Angesicht von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen ist es ihnen gelungen, das dörfliche Zusammenleben auf eine neue Grundlage zu stellen, wenn nicht sogar einen ebenso neuen Sinn zu geben. Also Herausforderungen zu meistern, die nicht nur in vergessenen Landstrichen im Nordosten Deutschlands greifbar sind.
Fremde Felder
Zu DDR-Zeiten sorgte die LPG Roter Stern für Auskommen und Beschäftigung. Nach der Wende kauften niederländische Investoren die Schweinemastanlage – und verschwanden über Nacht mit den Schweinen. Der ehemalige Kooperativ-Vorsitzende errichtete auf dem verlassenen Gelände, das das eigentliche Dorf wie ein Anhängsel wirken lässt, einen Milchhof. Den gibt es noch heute. Doch mit der Beschäftigung ist es so eine Sache: Lebten früher sämtliche Dorfbewohner von der landwirtschaftlichen Produktion, sind es heute noch zwei. Die wiederum, man ahnt es bereits in der ersten Einstellung, werden ausgepresst, wie und wo es nur geht. Mit den Feldern rings um ihre Häuser haben die Menschen ohnehin nichts mehr zu tun. Dort bestimmen Mähdrescher irgendwelcher Unternehmen das Geschehen. Die gestiegenen Bodenpreise machen jeden Traum von einer selbständigen Existenz als Bauer zunichte.
So mag die Frage erlaubt sein: Ist Wischershausen überhaupt noch ein Dorf? Oder handelt es sich nur um eine Ansammlung von enovierungsbedürftigen Eigenheimen und Gutshäusern, die den Bewohnern oft noch nicht einmal gehören? Klar ist: Die soziale Not und die auf ein Minimum reduzierte Infrastruktur haben die Wischershausener Prinzipien wiederentdecken lassen, die jahrhundertelang alltäglich waren: zum Beispiel Natural- und Tauschhandel anstelle von Geldwirtschaft. Zudem bedingt die, wenn auch nicht ganz freiwillige, Entschleunigung, dass die Menschen Zeit füreiander haben, anstatt sich im eigenen Wohnzimmer zu verkriechen.
Deutlich wird das anhand der Biografien der Protagonisten. Einer davon ist Harry: Der etwa 60-jährige Langzeitarbeitslose freut sich über jedes Schwein, dass die Nachbarn für ihn schlachten, damit er davon eine Weile essen kann. Im Gegenzug repariert er sämtliche technischen Geräte. Harry ist nur einer von vielen, die ein Netzwerk des Gebens und Nehmens bilden, das wenig mit Sentimentalitäten, aber viel mit Pragmatismus und Realitätsbewusstsein zu tun haben. Also mit einer Grundhaltung, die derlei Abgehängten von Außenstehenden nicht eben häufig zugebilligt wird.
Traum der Ferne
In Harrys Existenz kristallisieren sich jene Sehnsüchte am deutlichsten heraus, die auch die anderen umtreiben. Ganz oben steht das persönliche Glück: Um seine Tochter großzuziehen, hatte Harry in den 90er-Jahren seinen Job aufgegeben. Einen neuen zu finden, hat er längst aufgeben. Tag für Tag gondelt er mit seinem Wohnmobil über die Feldwege: immer auf der Suche nach einem Ort für stille Muße. Der Traum von einer Tour zum Nordkap lässt ihn nicht los, doch am Ende siegt die Einsicht in die Dinge, wie sie sind. „Wozu soll ich ans Nordkap, wenn ich den Fischotter um die Ecke links liegen lasse?“, fragt er. Nicht nur Harrys Beispiel zeigt: An Orten, wo die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sind, tritt der große Zusammenhang häufig umso deutlicher zutage. Mit Leiharbeit und anderen Auswüchsen der gegenwärtigen Arbeitswelt sind die Wischershausener bestens vertraut.
Doch „Am Ende der Milchstraße“ ist keine sozialkritische Studie im klassischen Sinne. Vielmehr wird gleichsam lakonisch und behutsam vorgeführt, wie die Menschen von einer Umgebung geprägt werden, die ihnen auf den ersten Blick wenig zu bieten hat. Und wie sie diese wiederum ins Zentrum ihres Tuns und Denkens rücken. Dass beim morgendlichen Melken oder der Kirschlikör-Runde am Küchentisch keine trotzigen „Jetzt-erst-recht“-Gesänge angestimmt werden, zählt zu den Überraschungen dieses Dokumentarfilms. Stattdessen erleben wir Menschen, die sich um eine aufrichtige Einschätzung ihrer Situation bemühen.
In solchen Momenten zehren Grün und Uhlig von dem Vertrauen, das sie während der fünfjährigen Arbeit vor Ort aufgebaut haben. Ihr mitunter poetischer, und doch weitgehend ungerührter Blick auf das Leben hinter einem Schleier aus Leere und Stille hinterlässt die Gewissheit, dass die Geschichte dieses Dorfes noch nicht zu Ende erzählt ist.
Am Ende der Milchstraße (Deutschland 2012), ein Film von Leopold Grün und Dirk Uhlig, 97 Minuten.
Ab sofort im Kino