Wie Ungarns Regierungschef Flüchtlinge ausnutzt
Die steigenden Flüchtlingszahlen stellen die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten der EU vor eine immer größere Zerreißprobe. Neuester Schauplatz: Ungarn. Dort hatte der Regierungssprecher Zoltán Kovács am Dienstag angekündigt, keine aus anderen EU-Staaten in sein Land zurückkehrenden Flüchtlinge mehr aufnehmen zu wollen. „Das Boot ist voll“, so Kovács gegenüber einer östereichischen Zeitung. De facto setzte die Regierung Victor Orbáns damit das innerhalb der EU geltende Dublin-III-Abkommen einseitig außer Kraft. Das Abkommen sieht vor, dass jeder Flüchtling in dem Land sein Asylverfahren durchlaufen muss, in welchem er zuerst europäischen Boden betreten hat.
Ungarn macht zwei Schritt vor und einen zurück
Nach starker Kritik aus Brüssel und anderen EU-Mitgliedsstaaten ließ Orbán seine Drohung nach nur einem Tag zwar wieder revidierten, der Eindruck populistischer Politik auf dem Rücken der Flüchtlinge aber bleibt. „Es gibt Stimmen die sagen, dass Orban versucht am rechten Rand zu fischen und Themen der rechtsextremen Jobbik aufzugreifen“, erklärt Jan Niklas Engels, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. Andere Analysten meinen, die Provokationen würden den Zweck verfolgen, von den wirklichen Problemen des Landes abzulenken. Die allein durch die Ankündigung vom Dienstag in Brüssel erzeugte Empörung sei wahrscheinlich einkalkuliert gewesen, Orbán wolle sich den eigenen Wählern als starker Mann präsentieren. „Viele argumentieren, dass da eine populistische Partei in der Regierung sei“, erklärt Engels.
Zu dieser Einschätzung passen verschiedene Aktionen Orbáns in den vergangenen Monaten. Zuletzt hatten im ganzen Land aufgestellte Plakate, die nur scheinbar an nach Ungarn einreisende Flüchtlinge gerichtet waren, für Aufsehen gesorgt. Auf den Plakaten prangten Sprüche wie „Wenn Du nach Ungarn kommst, kannst Du den Ungarn nicht die Jobs wegnehmen.“. Das Perfide daran: Die Botschaften waren auf Ungarisch formuliert, Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan dürften also nicht wirklich die Adressaten gewesen sein. „Die Regierung besetzt damit ein Thema, das auf Resonanz trifft“, erklärt Jan Niklas Engels. Tatsächlich würden Studien zur Fremdenfeindlichkeit in Ungarn zeigen, dass beinahe die Hälfte aller Bürger xenophobe Einstellungen teilen.
Kaum ein Flüchtling bleibt in Ungarn
Tatsache ist aber auch, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der meist über die serbisch-ungarische Grenze in die EU einreisenden Flüchtlinge im Land bleibt. Die übergroße Mehrheit zieht es weiter nach Österreich oder auch Deutschland. Da sie offiziell jedoch in Ungarn Asyl beantragen müssen, fürchtet die ungarische Regierung offenbar die Rückkehr all jener Flüchtlinge. Im Jahr 2014 wurden über 40000 Anträge gestellt, doch nur 535 Antragssteller blieben in Ungarn. Allein für das erste Halbjahr 2015 gehen Schätzungen von rund 60000 Menschen aus, die bisher über Ungarn in die EU eingewandert sind. Nach aktuellem Stand kann das Land maximal 3000 Menschen unterbringen.