Wie Erdogans konfrontativer Kurs die Türkei in die Sackgasse führt
Es ist ein Kampf der Rhetorik. „Deutschland gibt den Befehl zum Blutvergießen, zu einem Angriff größer als die Gezi-Proteste“ titelt Ibrahim Karagül, Chefredakteur der regierungstreuen türkischen Tageszeitung „Yeni Safak“ und bekannt für die abstrusesten Verschwörungstheorien. Diesmal macht er die Deutschen für alle Krisen der Türkei, ja selbst für den PKK-Terror verantwortlich – weil sie im Bundestag für die Armenien-Resolution gestimmt haben. Darin wird das Massaker an der armenischen Minderheit im osmanischen Reich 1915 als Völkermord bezeichnet – was nicht nur Ankara, sondern auch Meinungsmacher aller Couleur als politischen Schlag zur Schwächung der Türkei werten. Besonnene Stimmen des Landes werden da gnadenlos übertönt.
Erdogan verlangt Bluttests für Bundestagsabgeordnete
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat es insbesondere auf die elf türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten abgesehen, die für die Resolution stimmten. Offensichtlich fürchtet er um deren Einfluss auf die türkische Community ebenso wie ihre Signalfunktion auf die Türkei. Sie seien der verlängerte Arm der PKK, schimpft er: „Das sollen Türken sein? Man sollte erst einmal einen Bluttest vornehmen.“ Eine ideale Vorlage für alle, die auf Hass und Gewalt setzen.
Nach Morddrohungen stehen einige der elf Abgeordneten nun unter Polizeischutz – unter ihnen auch fünf Mitglieder der SPD-Fraktion. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz reagierte mit einem Brandbrief an den türkischen Staatschef. Die frei gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages wegen ihres Abstimmungsverhaltens anzugreifen und sie in die Nähe von Terroristen zu rücken, stelle „einen absoluten Tabubruch“ dar, heißt es in dem Brief, der nach Ankara ging. „Die Freiheit der Mandatsausübung, insbesondere die Freiheit von jedewedem äußeren Druck, ist einer der entscheidenden Gradmesser für die Qualität einer Demokratie“, schrieb Schulz, der dennoch gesprächsbereit bleibt. Auch die die NRW-Landesgruppe, der zwei der betroffenen Abgeordneten angehören, zeigt ihre Solidarität mit der Kampagne „Wir halten zusammen!“ gegen Hetze und für Demokratie.
Schluss mit „Mehr Freund, weniger Feinde“
Dabei hatte der neue türkische Premierminister Binali Yıldırım bei seinem Antritt Ende Mai noch einen neuen außenpolitischen Kurs nach dem Motto „Mehr Freunde, weniger Feinde“ angekündigt. Den hat die Türkei mehr als nötig. Die Beziehungen mit Russland sind seit dem Abschuss eines russischen Jets durch türkisches Militär im Herbst in einer Eiszeit, das Verhältnis zum Verbündeten USA ist wegen Differenzen in der Syrien-Politik unterkühlt und mit der EU trotz Flüchtlingsdeal höchst angespannt. Der bisherige Premierminister Ahmet Davutoglu, der den Deal mühsam ausgehandelt und einen neuen Frühling in den Beziehungen zur EU angekündigt hatte, wurde von Erdogan abgesetzt. Der beharrt auf seinem konfrontativen Kurs, zumindest rhetorisch.
Im eigenen Land verbittet sich Erdogan zunehmend jede Kritik. Mehr als 2000 Menschen sind wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt, kritische Journalisten werden gefeuert oder gar inhaftiert. Dazu kommt der erbarmungslose militärische Kampf gegen die kurdische Terrororganisation PKK, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung – was in den größtenteils regierungstreuen Medien totgeschwiegen wird. Anfang Juni trat ein Gesetz in Kraft, das die Immunität von mehr als einem Viertel der Parlamentarier aufhebt. Betroffen sind vor allem Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, aber auch der sozialdemokratischen CHP und der ultranationalstischen MHP. Zeitgleich wurden über 3700 unliebsame Richter und Staatsanwälte zwangsversetzt. Der Staatspräsident arbeitet an seiner Allmacht, und mit ihm regiert die Angst.
Erdogan nutzt Flüchtlingsdeal
Der Flüchtlingsdeal mit der EU scheint für Erdogan nun eine willkommene Gelegenheit, seinen Einfluss auch in Deutschland geltend zu machen. Das zeigte bereits die Böhmermann-Affäre, die man – trotz berechtigter Kritik an dem „Schmähgedicht“ – als Versuch Erdogans werten kann, nun auch Einfluss auf die deutsche Presse zu nehmen.
Dabei schaden die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei beiden Seiten. Beide Länder sind eng verbunden und aufeinander angewiesen – nicht erst seit dem Flüchtlingsdeal. Mehr als 6500 deutsche Firmen sind in der Türkei tätig, Deutschland ist wichtigster Exportmarkt der Türkei. Zwischen beiden Länder existiert ein Handelsvolumen von 36,8 Milliarden Euro. In Deutschland leben knapp drei Millionen Menschen türkischer Herkunft, und 2015 reisten 5,5 Millionen deutsche Touristen in die Türkei. Aber die Terroranschläge sowie die Drohgebärden aus Ankara gegen Deutschland schrecken Reisende jetzt ab.
Deutsch-türkischen Dialog fortsetzen
Die Türkei ist mehr als Erdogan, und für viele Türken hat das Wort Deutschlands großes Gewicht. Dem Land den Rücken zu kehren, würde hingegen viele in ihrer Enttäuschung darüber bestärken, dass sie jahrelang im Wartezimmer der EU gehalten wurden – auch als sich ihre Regierung noch reformfreudig zeigte. Der Dialog mit der Türkei muss aufrechterhalten werden.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.