Warum Merkel die Pressefreiheit gegen Erdogan verteidigen muss
Thomas Trutschel/photothek.net
Die ganze Welt schmunzelt über „Erdowie, Erdowo, Erdogan“. Mit der Einbestellung des deutschen Botschafters und seiner Forderung an die Bundesregierung, dem NDR die Ausstrahlung des Satire-Songs zu verbieten, hat sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan lächerlich gemacht. Lustig ist das aber nicht. Erdoğan will nach faktischer Abschaffung der Pressefreiheit im eigenen Land auch Deutschland Vorschriften machen. Woher nimmt Erdoğan diese Anmaßung? Ist das Größenwahn oder Narzissmus?
Erdoğans Gefängnisse voller Journalisten
Auch ich habe mich über die gelungene Parodie von „extra 3“ amüsiert. Aber das Lachen bleibt mir im Hals stecken, wenn ich daran denke, wie es einem Journalisten erginge, der auch nur ansatzweise etwas Ähnliches in der Türkei veröffentlichte. Statt 100.000 Likes auf Facebook zu sammeln ginge er eher für 100 Tage ins Gefängnis. Dass die türkischen Gefängnisse voll mit Journalisten sind, ist keine neue Nachricht. In zahlreichen Fortschritts- oder besser Rückschrittsberichten hat die EU die Entwicklung der Pressefreiheit in der Türkei immer wieder moniert.
In dem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, stehen die leitenden Redakteure der oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet“ Can Dündar und Erdem Gül vor einem Strafgericht in Istanbul – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Anklage lautet unter anderem auf Geheimnisverrat. Dabei haben die beiden mutigen Journalisten einfach nur ihren Job gemacht, zu dem es durchaus gehört auch einmal ein Geheimnis zu enttarnen. Erst recht, wenn es um den Verdacht geht, dass die türkische Regierung Waffen an den IS geliefert hat.
Pressefreiheit steht auf der Kippe
Es ist zu befürchten, dass der skandalöse Prozess gegen Cumhuriyet nur der vorläufige Höhepunkt von Erdoğans Feldzug gegen türkische Medien ist. Alleine seit Juni 2015 wurden zwei Zeitungen durchsucht, 32 Journalisten verhaftet und ein Medienkonzern sowie eine Zeitung unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Militante Anhänger von Erdogans Partei AKP stürmten die Redaktion der Zeitung „Hürriyet“. Zahlreiche Medien sollen durch Unternehmen aus dem Dunstkreis von Erdogan aufgekauft worden sein. Fast 2.000 Kritiker wurden wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung angezeigt.
„Die Türkei war noch nie ein Paradies für Journalisten.“ Dieses bittere Bonmot stammt vom angeklagten Can Dündar. Doch jetzt hat Erdogan es auf die komplette Abschaffung der Presse- und Meinungsfreiheit abgesehen und fühlt sich durch seine Wahlerfolge dazu legitimiert. Aber wie frei sind Wahlen, wenn die Wählerinnen und Wähler sich nicht frei informieren können und die Medienlandschaft zu einer Tendenzlandschaft wird? Auch bei der Rolle der Frau und den Minderheitenrechten hat sich die türkische Gesellschaft zurück entwickelt.
Merkel darf nicht länger wegsehen
Nicht nur der neue Präsidentenpalast erinnert an das osmanische Reich, sondern auch Erdoğans Vorstellung von einer Gesellschaft, die nicht meine ist. Dieses Land, wo ich die ersten drei Jahre meines Lebens verbracht habe und zu dem ich auch noch eine Bindung fühle, rückt von meinen demokratischen Grundprinzipien so weit weg, dass ich sogar die Lust verliere Urlaub in meinem Geburtsland zu machen. Überall sind die Zwänge eines autoritären Staates zu spüren. Demokratisch gesinnte Menschen ziehen sich immer mehr in ihre Nischen zurück und hoffen, nicht in das Visier des repressiven Erdogan-Regimes zu geraten.
Meine Solidarität gilt uneingeschränkt den fortschrittlichen Kräften und jenen Journalisten, die um ihre Existenz kämpfen. Meinungsfreiheit ist das A und O der Demokratie. Sie erst ermöglicht den fairen politischen Wettbewerb, und es gibt keine Freiheit ohne Pressefreiheit. Ich erwarte von meiner Bundeskanzlerin, dass sie gegenüber Erdoğan klare Kante zeigt. Die USA machen das vor. Unverständlich, dass Frau Merkel wegsieht. Trotz der Verständigung der EU mit der Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingskrise darf es keinen Rabatt auf Anforderungen an die Demokratie geben.
Hinweis: Dieser Kommentar erschien zuerst im „Tagesspiegel“.
Die SPD-Politikerin ist Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen in Berlin.