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Warum der Kursverfall der türkischen Lira Erdoğans Wahlsieg gefährdet

Die türkische Lira hat gegenüber Dollar und Euro dramatisch an Wert verloren. Experten sehen dies als Vorbote einer Wirtschaftskrise. Für Präsident Erdoğan kurz vor den Neuwahlen am 24. Juni eine heikle Situation – die er mit seinem Druck auf die türkische Zentralbank allerdings nur noch verschärft.
von Kristina Karasu · 24. Mai 2018
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Ibrahim Kirmizigül lässt nichts auf seine Regierung kommen. Der 37-jährige Istanbuler Elektrohändler kauft seine Importware in Dollar, verkauft sie aber in türkischer Lira. Seit die Lira in den letzten Monaten rasant an Wert verliert schmilzt Kirmizigüls Gewinnspanne. Muss er die Preise anheben, sind die goldenen Verkaufszeiten vorbei. Die Schuldigen für den Kursverfall sucht er im Ausland: „Dahinter stecken bloß Spekulationen, ausländische Mächte. Was haben die nur gegen uns?“

Schuld sind immer ausländische Verschwörungen

Diese Rhetorik bedienen die türkische AKP-Regierung und ihre Medien seit Jahren. Egal was im Land schief läuft – Gezi-Proteste, Korruptionsskandal, Putschversuch oder eben jetzt der Werteverfall der türkischen Lira – für all das sind ausländische Verschwörungen verantwortlich, die den fulminanten Aufstieg der Türkei verhindern wollen. Viele Wähler glaubten das, mit dieser Strategie konnte sich die AKP trotz zahlreicher Krisen jahrelang an der Macht halten. Doch fraglich, ob diese Taktik auch dieses Mal funktioniert.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat für den 24. Juni vorgezogene Neuwahlen ausgerufen, zum ersten Mal werden zugleich Präsident und Parlament gewählt. Sollten er und seine Partei bei beiden Wahlen die absolute Mehrheit erreichen, würde das von ihm entworfene Präsidialsystem endgültig in Kraft treten, das alle Staatsmacht in seinen Händen bündelt.

Währungsverfall bedroht Wahlsieg der AKP

Doch der Lira-Kurs droht seinen Wahlsieg zu gefährden. Die heimische Währung verlor seit Jahresanfang gegenüber dem Dollar 22 Prozent an Wert, gegenüber dem Euro sogar 25 Prozent. Am Mittwoch kostete ein Dollar 4,82 Lira – ein Rekord. Zwar leiden auch anderen Schwellenländer derzeit unter dem erstarkenden Dollar, doch kein Land traf es bisher so hart wie die Türkei.

„Wegen dem Kursverfall werden die Leute diesmal Erdoğan nicht ihre Stimmen geben“, glaubt Lampenhändler Emrah Yildiz. Sein Geschäft liegt nur ein paar Meter von dem des Elektrohändlers Kirmizigüls entfernt, doch die wirtschaftspolitische Sicht der beiden Männer ist meilenweit voneinander entfernt. Während Regierungsanhänger Kirmizigül auf das stattliche türkische Wirtschaftswachstum von 7,4 Prozent im letzten Jahr verweist, sieht Yildiz das Land angesichts des Kursverfalls am Rande einer großen Wirtschaftskrise.

Wirtschaftserwartungen entscheiden die Wahl

Ihre Sichtweisen sind typisch für die politischen Lager des Landes, analysiert der politische Ökonom Ozan Sakar: „Für die Regierungsanhänger ist der Kursverfall ein Grund, erst recht der Regierung ihre Stimme zu geben und mehr Zusammenhalt zu propagieren. Kritiker Erdoğans hingegen sehen sich darin bestärkt, dass nun die Zeit für einen politischen Wechsel gekommen ist.“

Das Zünglein an der Waage werden am 24. Juni die Wähler sein, die jahrelang der AKP ihre Stimme nicht aus ideologischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen gaben. Galt die AKP für viele doch lange als Garant für Wirtschaftswachstum und Stabilität. Doch mittlerweile sind die Bürger verunsichert, steht dem großen Wirtschaftswachstum eine enorm hohe Inflation gegenüber. Viele türkische Unternehmer sind in Dollar verschuldet, was das Risiko einer Wirtschaftskrise nur noch erhöht.

Versuchte Einflussnahme auf die Zentralbank

Vor allem aber scheint Erdoğans wachsender Kontrollwahn die Stabilität zu behindern. Seine Einflussnahme auf eigentlich unabhängige Institutionen ist fatal, erklärt Ökonom Sakar: „In den letzten Monaten verstärkten sich die Zweifel, ob die türkische Zentralbank wirklich unabhängig ist oder unter politischem Druck steht. Solange das der Fall ist, kann sich auch die Lira nicht erholen.“

Mitte Mai verkündete Erdoğan gar vor Investoren in London, im Falle eines Wahlsieges würde er die Währungshüter stärker unter seine Kontrolle nehmen. Als Resultat stürzte die Lira erst recht ab, Ratingagenturen kritisierten Erdoğan scharf.

Teure Kredite sind unpopulär

Der Präsident propagiert seit langem seine unorthodoxe Sicht, die Zentralbank solle den Leitzins nicht erhöhen. Teure Kredite sind in Zeiten des Wahlkampfes unpopulär und laufen Gefahr, die Wirtschaft zu bremsen. Doch für Experten scheint dies unerlässlich, um die Talfahrt der Lira und damit die Inflation zu stoppen.

Am Mittwochabend griff die türkische Zentralbank endlich zu dieser Maßnahme, erhöhte den Leitzins entgegen Erdoğans Anweisung. Prompt erholte sich auch die Lira leicht. Für Ökonom Sakar ein wichtiges Signal: „Die Zentralbank hat damit gezeigt: Wir sind da, wir treffen unsere eigenen Entscheidungen.“

CHP-Opposition will Krise lösen

Die Oppositionsführer der republikanischen Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD, propagieren im Wahlkampf genau diese Unabhängigkeit der Institutionen. CHP-Präsidentschaftskandidat Muharrem İnce verkündete am Mittwoch, im Falle seines Wahlsieges würde er umgehend eine freie Zentralbank und Justiz garantieren und für wirtschaftliche Erholung sorgen: „Diese jetzige dunkle Situation wird damit innerhalb einer Woche beendet.“

Ebenso will İnce den Ausnahmezustand aufheben, der seit dem Sommer 2016 im Land herrscht und Freiheiten sowie Grundrechte der Bürger beschneidet. In wenigen Tagen werden die Probleme der Türkei freilich nicht zu lösen sein, doch sind dies Schritte, die mindestens die Hälfte der Türken sehnlichst erwarten.

Abgang Erdoğans für ein Comeback?

Ein Abgang Erdoğans scheint derzeit in weiter Ferne, aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Aktuelle Umfragen sehen ihn weiterhin vor allen anderen Kandidaten, doch ohne absolute Mehrheit. Müsste er bei der Präsidentenwahl in die zweite Runde, würde das für ihn einen großen Machtverlust und für die Opposition enormen Aufwind bedeuten.

Erdoğan selbst erklärte Anfang Mai zum Erstaunen der Opposition: „Wenn unser Volk eines Tages ‚es reicht’ sagt, werden wir Platz machen.“ Der Twitter-Hashtag „Tamam“ (türkisch: es reicht) wurde seither millionenfach von Regierungsgegnern geteilt. Zugleich ist ihnen klar, dass Erdoğan kein Mittel ungenutzt lassen wird, um an der Macht zu bleiben. Manch wagemutiger Kommentator glaubt gar, er könnte jetzt abtreten, um einige Monate später in Zeiten einer großen Wirtschaftskrise als Heilsbringer zurück an die Macht zu kommen. Das wäre für den alles kontrollierenden Präsidenten allerdings ein äußerst unkontrollierbares Risiko.  

 

 

 

 

 

 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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