Als auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Proteste begannen, war Hilmi Kaya Turan dort. „Ich habe zum ersten Mal die türkische Zivilgesellschaft in Aktion gesehen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Die Brutalität der Polizei sei unverantwortlich.
vorwärts: Herr Turan, sie waren selbst vor kurzem in der Türkei...
Hilmi Kaya Turan: Genau. Als die Proteste am 31. Mai losgingen, war ich am Taksim-Platz. Rein zufällig, weil ich in Istanbul meinen Urlaub verbringen wollte. Dort konnte ich das ganze Geschehen bis zum 9. Juni mitverfolgen.
Welche Eindrücke haben sie dort gewonnen?
Ich war sehr positiv überrascht. Viele Jugendliche, die als unpolitisch galten, sind zum Taksim-Platz gestürmt. Der Auslöser war, dass die Polizei die Menschen, die sich am Gezi-Park für die Natur stark gemacht haben, attackiert und deren Zelte nieder gebrannt hat. Zudem hat Erdogan die Naturschützer mit erniedrigenden Worten erwähnt. Ich habe gemerkt: Die Jugendlichen haben es satt, dass Erdogan mit seiner Art zu sprechen immer wieder Menschen erniedrigt. Und dass er mit seiner Politik in das Privatleben der Menschen eindringt und ihnen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Dagegen wehrt sich die Jugend und sagt: Bis hierhin und nicht weiter.
War die Stimmung auf dem Taksim-Platz friedlich oder aggressiv?
So etwas habe ich davor noch nicht erlebt: Die Jugendlichen waren sehr ruhig, obwohl sie von der Polizei wirklich mit harter Gewalt attackiert wurden. Und während der Straßenkämpfe, die ja vor allem von den Polizisten ausgingen, hat sich jeder für die Menschen in seiner Umgebung zuständig gefühlt. Besonders, wenn Menschen unter dem Tränengas litten, war immer gleich jemand da, der eingegriffen und mit Medikamenten oder Wasser geholfen hat.
Anlass für die Proteste war Erdogans Plan, den Gezi-Park in Istanbul zu bebauen. Was sind die wichtigsten Forderungen der Demonstranten?
Sie wollen, dass die Grünfläche auf dem Gezi-Park erhalten bleibt. Der Staat soll sich entschuldigen und zusichern, in Zukunft nicht mehr in die Lebensräume der Einzelnen einzudringen. Die bisher Verhafteten sollen freigelassen werden. Das sind die wichtigsten Forderungen. Zwischendurch haben manche auch den Rücktritt Erdogans gefordert. Im Kern geht es aber nicht darum, die AKP-Regierung abzulösen. Die Demonstranten wollen einfach ein Zeichen setzen, gegenüber der Regierung aber auch den Oppositionsparteien, dass sie mit der bisherigen Politik nicht einverstanden sind. Ich habe am Taksim-Platz zum ersten Mal die türkische Zivilgesellschaft in Aktion gesehen.
Wie nehmen die in Deutschland lebenden Türken die Ereignisse auf?
Geteilt. Sie sind ja keine homogene Gruppe. Natürlich leben in Deutschland auch AKP-Anhänger. Doch selbst unter ihnen sind Viele mit der Sturheit Erdogans nicht einverstanden. Er hat ja überhaupt keine Bereitschaft gezeigt, auf die Demonstranten zuzugehen, sondern hat auf die eigene Stärke gesetzt.
Was muss geschehen, damit es nach den Ereignissen der letzten Wochen zu einer dauerhaften, friedlichen Lösung des Konflikts kommen kann?
Da gibt es nicht viel zu tun. Erdogan muss Bereitschaft zeigen, mit den Demonstranten einen Dialog zu führen und ihre Forderungen zu prüfen. Und er muss sich entschuldigen für die massive, unverhältnismäßige staatliche Gewalt. Mehr ist zur Zeit nicht nötig. Aber selbst dazu ist Erdogan momentan nicht bereit.
Mittlerweile spricht Erdogan mit Vertretern der Protestbewegung.
Ich weiß nicht, ob die eingeladenen Vertreter als solche auch von den Demonstranten anerkannt werden. Wenn ja, wäre das ein wichtiger Schritt zu Beseitigung der Unruhen. Soweit ich informiert bin, ging es bei der Zusammenkunft um den Erhalt des Gezi-Parks. Was ist aber mit den anderen Forderungen der Demonstranten? Solange die ignoriert werden, kann eine Lösung im beiderseitigen Interesse nicht herbeigeführt werden.
Ich möchte noch etwas erwähnt haben...
Bitte.
Schon am ersten Tag der Proteste, dem 31. Mai, habe ich auf dem Taksim-Platz eine Gas-Kartusche der Polizei ans Bein geschossen bekommen. Eineinhalb Wochen lang musste ich danach humpeln. Ich dachte: Wenn man das ins Gesicht bekommt, kann das tödlich sein. Der Einsatz der Polizei war unverantwortlich. Erst dadurch sind auch einzelne Demonstranten gewalttätig geworden. In den ersten Tagen der Proteste haben Jugendliche auf der Demonstration Zettel mit Regeln verteilt. Zum Beispiel: Keine rassistischen Äußerungen! Keine parteipolitischen Forderungen! Keine Gewalt! Kein Vandalismus! Von diesen Jugendlichen können wir lernen.
Hilmi Kaya Turan ist Stellvertretender Bundesvorstand der Türkischen Gemeinde in Deutschland und Vorstandssprecher des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg.
arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.