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Ukraine: Diplomatie ist nicht Appeasement

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier spricht im Interview mit dem vorwärts über eine mögliche Lösung des Ukraine-Konfliktes und über die Gefahren für Europa, die vom islamistischen Terror im Irak und in Syrien ausgehen.
von Karin Nink · 25. September 2014

Herr Minister, Sie arbeiten seit Monaten unermüdlich für eine friedliche Lösung im Ukraine-Konflikt. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Der Ukraine-Konflikt ist zweifellos die schwerste Krise, die wir seit dem Ende des Kalten Krieges in Europa erlebt haben. Es ist noch nicht lange her, dass die Auseinandersetzung in der Ost-Ukraine in einer offenen militärischen Konfrontation zwischen ukrainischen und russischen Streitkräften zu enden drohte. Deshalb war es notwendig, die Konfliktparteien im Gespräch zu halten. Der von uns geförderte direkte Kontakt zwischen den Präsidenten Poroschenko und Putin hat nun zu einem Fahrplan zur Konfliktentschärfung geführt. Ich hoffe, dass daraus mehr als nur eine immer wieder gefährdete Waffenruhe wird. Bis zu einer tatsächlichen Lösung des Konflikts ist es aber noch ein weiter Weg, für den wir Entschlossenheit und Ausdauer in Moskau und Kiew brauchen.

Sehen Sie die Gefahr einer „Verächtlichmachung der Diplomatie“, wie es Sigmar Gabriel vor kurzem ausgedrückt hat?

Es gibt viele, die das Werk der Zuspitzung perfekt beherrschen, und nur wenige, die sich tatsächlich um Entschärfung bemühen. Wir brauchen in der Außenpolitik das vorsichtig tastende Agieren der Diplomatie gerade dann, wenn Lösungen nicht auf der Hand liegen. Sonst wird Außenpolitik ihrer Möglichkeiten zur friedlichen Konfliktlösung beraubt.

Erhöht der Ukraine-Konflikt die Bereitschaft der EU-Staaten für eine wirkliche gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik?

Zumindest haben – allen Unkenrufen zum Trotz – die 28 europäischen Mitgliedsstaaten über den ganzen Verlauf des Konfliktes hinweg mit einer Stimme gesprochen und sich nicht auseinander dividieren lassen. Wir waren und sind uns alle einig in der Verurteilung der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland. Ebenso einig sind wir uns, dass Russland nicht erlaubt werden darf, die Ukraine dauerhaft zu destabilisieren. Wir sind uns einig, die territoriale Integrität der Ukraine zu wahren.

In der SPD gibt es den weit verbreiteten Wunsch nach einer neuen sozialdemokratischen Ost- und Entspannungspolitik. Deren zentrales Element war die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa. Genau die erkennt Russland aber heute nicht mehr an.

Sozialdemokratische Außenpolitik wird sich immer in der Tradition von Willy Brandt sehen. Ich werde das mir Mögliche tun, um zu verhindern, dass aus dem Ukraine-Konflikt eine neue Spaltung Europas wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass der Konflikt in der Ukraine ohne Russland gelöst werden kann. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dringend dafür, nicht den Phantasien derjenigen nachzugeben, die auf Selbstisolation Russlands hoffen oder aktiv Russlands Isolation fördern. Für uns ist und bleibt Russland der größte Nachbar Europas, mit dem wir umgehen und leben müssen. Ein „business as usal“ wird es dennoch nicht geben. Das Grundvertrauen in Russland ist erodiert und es wird auch nicht über Nacht wieder herstellbar sein.

Grundvertrauen setzt Vertragstreue voraus. Die Ostpolitik Brandts war Vertragspolitik. Welche Chancen hat heute eine Vertragspolitik mit dem Kreml, der so wichtige Verträge gebrochen hat, wie das Budapest-Memorandum, die KSZE-Schlussakte oder die Nato-Russland-Grundakte?

Wir haben uns jedenfalls entschieden, auf das russische Agieren nicht mit gleichen Mitteln zu antworten und die Nato-Russland-Grundakte nicht aufzukündigen. Wir haben kein Interesse an einem Dauerkonflikt mit Russland. Unsere Botschaft ist klar: Wenn Moskau sich auf den Boden der europäischen Sicherheitsarchitektur zurückbegibt, dann ist auch Kooperation wieder möglich.

Die Bundesregierung hat wiederholt erklärt, ihr zentrales Ziel sei die territoriale Integrität der Ukraine. Ist eine Lösung des Konfliktes, die die Grenzen der Ukraine verändert, überhaupt vorstellbar?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Idee in der Ukraine auf Akzeptanz stoßen würde und kann auch nur davor warnen, solche  Ideen ernsthaft in Betracht zu ziehen. Ein Staat, der mit dem vorgeschobenen Argument des Minderheitenschutzes in seinem Nachbarland tätig wird, stellt die Regeln des friedlichen Zusammenlebens der Völker infrage. Wir können jedenfalls nicht hinnehmen, dass sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa Grenzen willkürlich korrigiert werden.

Es war nicht zuletzt Deutschland, das 2008 den Nato-Beitritt der Ukraine verhindert hat. Aus Osteuropa ist jetzt zu hören, Deutschland habe damit eine Mitverantwortung, dass die Ukraine heute Russland so schutzlos ausgeliefert ist.

2008 hatten wir einen ähnlich gefährlichen Konflikt zwischen Russland und Georgien. Ich kenne kaum jemanden, der damals mit einer Ausweitung der Nato-Mitgliedschaft Richtung Ukraine und Georgien noch Öl ins Feuer gießen wollte. Das sollte man heute nicht vergessen.

Viele Politiker vergleichen Putins Aggression gegen die Ukraine mit der Hitlers gegen die Tschechoslowakei und warnen vor einer Appeasement-Politik des Westens. Sind diese Warnungen berechtigt?

Viel zu oft wird München 1938 als Geschichtskeule benutzt. Der Vergleich mit 1938 trifft aber schlicht nicht zu. Damals haben die europäischen Mächte gegenüber Nazi-Deutschland weggeschaut. Heute reagiert Europa mit einer klaren Haltung: mit der Verurteilung der Krim-Annexion, mit politischem Druck und mit wirtschaftlichen Sanktionen.

Themenwechsel: Mit den Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak weicht die Bundesregierung erstmals vom Prinzip ab, keine Waffen in Spannungsgebiete zu liefern. Warum? Und warum liefert sie nicht auch nach Syrien?

Ich bin überzeugt, dass unser restriktiver Ansatz beim Export von Waffen sehr gut begründet ist. An unseren außenpolitischen Prinzipien militärischer Zurückhaltung hat sich nichts geändert. Aber angesichts der Brutalität, mit der ISIS ganze Bevölkerungsgruppen verfolgt, erniedrigt und auf brutalste Weise tötet, angesichts der Bedrohung nicht nur für die Kurden und den irakischen Staat, sondern auch für unsere eigene Sicherheit, können wir uns nicht hinter Prinzipien verstecken. Es war eine schwierige Abwägung, die richtige Entscheidung zu treffen. Mit der kurdischen Regionalregierung haben wir einen bewährten Partner. Und in Syrien hat sich die Lage mit einer Vielzahl von Oppositionsgruppen, die sich teils gegenseitig bekämpfen, gänzlich anders entwickelt. Man kann die Lage in Syrien nicht mit der im Irak vergleichen.

Im Irak und in Syrien lösen sich staatliche Strukturen und Grenzen auf. Was muss getan werden, um die Region auf Dauer zu beruhigen?

Diese Konflikte können nicht allein militärisch gelöst werden. Im Irak bietet die neue Regierung von Ministerpräsident Abadi die Chance, die Enttäuschten unter den Sunniten und Kurden wieder in den politischen Prozess einzubeziehen und so ISIS politisch den Boden zu entziehen. Auch in Syrien kann letztlich nur eine politische Lösung Stabilität bringen. Die Ernennung des neuen UN-Syrienbeauftragten de Mistura bietet vielleicht die Gelegenheit, neue Bewegung in den politischen Prozess zu bekommen.

Müssen für die Allianz gegen den IS bzw. ISIS nicht vorrangig die starken Mächte der Region wie die Türkei und der Iran herangezogen werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, der Westen wolle die Geschicke der arabischen Welt bestimmen?

Der Schlüssel zum Erfolg gegen ISIS liegt in der Region. Wir brauchen eine Verständigung unter den Nachbarstaaten, gemeinsam gegen ISIS vorzugehen. Dass Frankreich beim Außenminister-Treffen in Paris die entscheidenden  arabischen Akteure mit dem Irak und Vertretern westlicher Staaten an einen Tisch gebracht hat, war ein Schritt in die richtige Richtung. Ich selbst habe die deutsche G7-Präsidentschaft genutzt, um das Thema in diesem Kreis in New York weiter voranzubringen. Wichtig ist, dass wir unsere Gespräche jetzt gemeinsam mit den regionalen Akteuren in politisches Handeln umsetzen.

Welche Auswirkungen hat die veränderte Lage in der arabischen Welt auf Israel und auf Europa?

Wir dürfen uns nichts vormachen: Wo Ordnung zerfällt und Tummelplätze für Terroristen und Extremisten entstehen – erst recht in der Nähe der Außengrenzen Europas, da sind auch wir betroffen. Für Israel gilt das natürlich ganz unmittelbar. Aber auch in Deutschland spüren wir das immer stärker, nicht nur an der Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, sondern auch an den radikalisierten jungen Deutschen, die sich ISIS und anderen extremistischen Gruppen anschließen.

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Karin Nink

ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.

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