International

Ukraine: Die Wirklichkeit ist komplexer

von Carl-Friedrich Höck · 5. Dezember 2013

Die aktuellen Proteste in der Ukraine sind nicht nur dem gescheiterten Assozziierungsabkommen mit der EU geschuldet. Der Konflikt mit der Regierung hat viele Ursachen, erklärt der Soziologe Mihai Varga  im Interview mit vorwärts.de. 

vorwärts.de: Seitdem das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU gescheitert ist, fordern zehntausende Demonstranten den Rücktritt der Regierung. Hat Sie das Ausmaß der Proteste überrascht?

Mihai Varga: In den letzten Jahren gab es schon sehr viele landesweite Proteste in der Ukraine. Deshalb kann es heute kaum jemanden verwundern, dass es zu diesen massiven Demonstrationen gekommen ist. Protestiert wurde vor allem gegen Polizeigewalt.

Aber bei den aktuellen Protesten geht es nicht nur um Polizeigewalt...

Für mich ist die Polizeigewalt und die Misshandlung durch Behörden ein zentraler Grund für die Demonstrationen. Das wird auch klar, wenn man sich den Verlauf der Proteste anschaut. Am 30. November war es noch relativ ruhig. Im Zentrum Kiews haben sich Leute versammelt und ein Zeltlager organisiert. Die Regierung hätte einfach warten können, bis diese kleine Protestwelle vorbei ist. Aber sie hat einen Fehler gemacht und den Platz räumen lassen. Als Antwort auf diese Räumungsaktion kam die Protestwelle mit zehntausenden Teilnehmern, die wir alle im Fernsehen gesehen haben.

Was erhoffen sich die Demonstranten von einer Annäherung an die EU?

Ich glaube, bei vielen Demonstranten spielt dieses Thema nur eine untergeordnete Rolle. Bei meinen Besuchen in der Ukraine habe ich mitbekommen, dass viele Menschen unzufrieden sind mit der aktuellen Regierung. Die Proteste sind einfach eine Gelegenheit, etwas gegen die Regierung zu unternehmen.

Das gescheiterte Assoziierungsabkommen mit der EU war also gar nicht der Grund, sondern nur der Anlass für die Proteste?

Ja. Das gilt zumindest für die Proteste, die wir seit dem 1. Dezember erleben. Einem kleinen, aktiven Kern der Oppositionsparteien ist das Assoziierungsabkommen wichtig. Das gilt aber nicht für die große Masse der Demonstranten.

Und welche Rolle spielt das Thema Korruption in dem Konflikt?

Korruption ist in Osteuropa ein Problem. Die Menschen müssen oft Bestechungsgelder für staatliche Leistungen zahlen, obwohl sie auch so einen Anspruch darauf hätten. Aber dieses Problem gab es in der Ukraine schon vor der Präsidentschaft Janukowitschs. Die Menschen haben sich sozusagen daran gewöhnt. Die Polizeigewalt aber ist schlimmer geworden. Oder wir erfahren jetzt mehr darüber, weil es mittlerweile viele Bürgerinitativen gibt, die diese Gewalt dokumentieren.

Beides hängt aber auch zusammen. Denn Verbrecher werden von der Polizei gezielt geschützt, wenn sie mit Top-Politikern oder Beamten verwandt sind. Solche Fälle konnte man in letzter Zeit oft in der Presse lesen. Und die Leute, die da in Schutz genommen werden, stehen meistens mit der aktuellen Regierung in Verbindung.

Die Opposition in der Ukraine wird hierzulande oft als „pro-westlich“ beschrieben. Trifft dieses Bild zu?

Die Wirklichkeit ist komplexer. Hinter den Protesten stehen drei große Organisationen. Dazu gehört die rechtsradikale Swoboda-Partei, deren Aktivisten auch gewalttätige Protestaktionen organisiert haben. Im Frühjahr hat die Swoboda-Partei Proteste gegen die Gay-Parade organisiert. Dabei wurden auch Teilnehmer der Gay-Parade angegriffen.

Dagegen treten die Parteien „Udar“ von Vitali Klitschko und die „Vaterlandspartei“ von Julija Timoschenko tatsächlich für eine Annäherung an die EU und westliche Werte ein.

Die Opposition galt bisher als zerstritten. Könnte sich das nun ändern? 

Das hängt davon ab, wie sich die Regierung verhält. Wenn sie es auf einen offenen Konflikt ankommen lässt, wird es der Opposition leichter fallen, sich hinter gemeinsamen Zielen zu sammeln. Aber die Regierung ist erfahren im Umgang mit Protesten. 2010 haben schon einmal Demonstranten den Platz der Unabhängigkeit in Kiew besetzt. Damals hat die Regierung die Proteste geschickt ausmanövriert, indem sie ein paar der Organisatoren der Proteste eingebunden oder mit Versprechungen geködert hat. Damit konnte sie einen Keil treiben zwischen den harten Kern der Demonstranten und die moderaten, verhandlungsbereiten Regierungskritiker.

Wie bewerten Sie die Rolle Russlands in dem Konflikt?

Russland spielt in wirtschaftlichen Fragen eine wichtige Rolle für die Ukraine. Für Russlands Präsidenten Putin ist wichtig, dass das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieben wird. Das hat er nun erreicht. Sich darüber hinaus in die ukrainische Politik einzumischen, macht für Putin wenig Sinn. Die aktuellen Proteste sind ein ukrainisches Szenario. Der Konflikt muss innerhalb des Landes zwischen der Regierung und der Opposition gelöst werden.

Kann Deutschland dazu beitragen, den Konflikt zu entschärfen?

Die ukrainische Regierung nimmt Deutschland sehr ernst. Sie hat den pro-europäischen Weg nie ausgeschlossen. Doch mit ihrer Politik – etwa der Verhaftung von Julija Timoschenko – hat sie den Annäherungsprozess an Deutschland und die EU gebremst. Und ich nehme an, der ukrainische Präsident Janukowitsch wird Timoschenko auch nicht freilassen. Sie ist eine sehr gute Wahlkämpferin und die größte Gefahr für Janukowitschs Regime.

Deutschland kann vermitteln und so zur Entschärfung des Konflikts beitragen. Dass es demnächst auch ein Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU geben wird, glaube ich aber nicht.

Mihai Varga ist promovierter Soziologe und arbeitet am Ost-Europa-Institut der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsthemen sind aktuelle Politik, Rechtsextremismus und soziale Bewegungen in der Ukraine und Rumänien.

Autor*in
Avatar
Carl-Friedrich Höck

arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare