Die Ukraine steht kurz vor dem Staatsbankott. Den Parteien fehlen Ideen, wie die Krise überwunden werden kann. Ob der politische Umbruch gelingen wird, hängt auch vom Verhalten Russlands ab. Eine Analyse von Stephan Meuser, Osteuropa-Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Nach dem politischen Umbruch der letzten Woche hat sich schnell eine neue Doppelstruktur herausgebildet: Die jetzt Regierenden, die zum Teil die alten aus der Zeit nach der „Orangen Revolution“ sind, stehen unter kritischer Beobachtung der Maidan-Opposition, die bereits angekündigt hat, bis zu den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 25. Mai auf dem Platz präsent zu bleiben. Das Ziel der politisch von ganz weit rechts bis zu linksliberalen Aktivisten reichenden Kräfte war nicht die Freilassung von Julia Timoschenko, sondern ein Ende der Korruption und Vetternwirtschaft, verbunden mit dem Ruf nach neuen Gesichtern und dem Protest gegen die Abwendung von der EU.
Klischko bewusst nicht in Regierung
Die am 27. Februar gebildete Übergangsregierung bindet daher neben bekannten Namen aus Timoschenkos „Vaterland“-Partei auch Tyaniboks rechtsextreme „Freiheit“ und Aktivisten aus dem Maidan ein, jedoch keine Vertreter der alten Regierungsfraktion der „Partei der Regionen“. „Vaterland“ hat sich den Zugriff auf sämtliche Machtministerien gesichert, während die Klitschko-Partei „UDAR“ nicht vertreten ist, wohl aus dem Kalkül heraus, dann später nicht mit unpopulären Schritten dieser Regierung identifiziert zu werden.
Kreditbedarf von 25 Milliarden
Die politische Führung steht vor enormen Aufgaben, denn das Land befindet sich bei einem kurzfristigen Kreditbedarf von 25 Milliarden Euro bis Ende 2015 kurz vor dem Staatsbankrott. Die Wirtschaftslage hat sich seit der abrupten Entscheidung der Regierung Janukowitsch vom Herbst 2013, das EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben, nochmals verschlechtert. Gleichzeitig fehlen in sämtlichen ukrainischen Parteien Aussagen zu der Frage, wie die Krise überwunden werden kann. Daher die Hoffnung auf Europa und einen neuen Marshallplan. Wichtig wird sein, ob die zukünftigen Geberländer erwägen, zumindest für den Anschub der Unterstützung auf eine harte Konditionierung zu verzichten. Die Auflagen des IWF hätten es nämlich in sich. Im Wesentlichen würde deren Umsetzung einer Austeritätspolitik à la Südeuropa entsprechen. Mit den bekannten Folgen: Die Annäherung an die EU würde erkauft durch höhere Preise, die Deckelung von Sozialleistungen und steigende Arbeitslosigkeit. An die nahe liegende Lösung einer Beteiligung der Oligarchen an den Kosten des wirtschaftlichen Neuaufbaus traut sich wegen deren Verflechtung mit der Politik aber keine Regierung heran.
Keine akute Bedrohung auf der Krim
Die zweite Herausforderung bleibt das Verhältnis zum großen Nachbarn. Es ist trotz der jüngsten Kraftmeierei denkbar, dass sich Russland recht schnell mit der neuen Lage in Kiew arrangiert. Denn es gibt ein Interesse Russlands an politischer Stabilität im Hinblick auf die eigenen Geschäftsinteressen. Es darf aus russischer Binnensicht aufgrund der möglichen Auswirkungen auf die eigene Innenpolitik eben nur nicht zu einer weitergehenden Revolution der Maidan-Demonstranten kommen.
Die letzten Tage rückten die Halbinsel Krim in den Mittelpunkt des ukrainisch-russischen Verhältnisses, mitsamt der dortigen russisch sprechenden Mehrheit und der in Sewastopol stationierten russischen Schwarzmeerflotte. Gegenseitige rhetorische Abrüstung scheint hier das Gebot der Stunde, denn es gibt keine akute Bedrohungslage für die dortige Bevölkerung, sondern nur diffuse Ängste. Ein Referendum am Tag der Präsidentschaftswahlen soll nun die Lage entspannen helfen. Dies wäre auch im jeweiligen wohlverstandenen Interesse, denn die wirtschaftlichen Verflechtungen beider Staaten vertragen keine dauerhafte Konfliktlage.
Keine unnötigen Frontstellungen
Eine Aufgabe europäischer Ostpolitik wird es sein, der Ukraine kurzfristig die nötige Atempause zur wirtschaftlichen Erholung zu verschaffen und gleichzeitig langfristig unter Einbindung Russlands einen politischen Prozess zu starten, der sinnlose Frontstellungen auflöst. Ob das Projekt „gemeinsames europäisches Haus“ oder „Freihandel von Lissabon bis Wladiwostok“ heißen wird, ist Nebensache. Hauptsache, es wird endlich angegangen!