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Türkische Opposition: Ein Tag im Amt, ein Bein im Gefängnis

Weil ihr bisheriger Chef im Gefängnis sitzt, hat die türkische Oppositionspartei HDP einen neuen Vorsitz gewählt. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft auch gegen die neue Parteiführung – mit Vorwürfen, die typisch sind für die heutige Türkei.
von Paul Starzmann · 13. Februar 2018
HDP-Vorsitz
HDP-Vorsitz

Bei ihrem Parteitag in Ankara am vergangenen Wochenende musste die linksliberale, pro-kurdische Partei HDP ohne ihren bisherigen Vorsitzenden auskommen. Der Grund: Selahattin Demirtaş sitzt seit November 2016 in Haft. Der türkische Staat wirft ihm „Terrorunterstützung“ vor. In Wirklichkeit aber scheint die Regierung den charismatischen Oppositionspolitiker mundtot machen zu wollen. Doch der 44-Jährige ist nicht so leicht kleinzukriegen: Im Gefängnis hat er das Buch „Seher“ (Türkisch für: Zwielicht) geschrieben, das in der Türkei in kurzer Zeit zum Beststeller aufgestiegen ist.

„Wir werden gewinnen“

Bis zuletzt wollte die HDP eigentlich an Demirtaş als Vorsitzenden festhalten. Es wäre eine ungewöhnliche Situation gewesen: eine Oppositionspartei, die von einem Häftling angeführt wird. Doch Demirtaş lehnte das ab. Wie die Ko-Vorsitzende Serpil Kemalbay trat er beim HDP-Parteitag am Wochenende nicht mehr an. Auch Figen Yüksekdağ, die bis Anfang 2017 Ko-Chefin der Partei war, kandidierte nicht. Sie war im Februar 2017 zu zehn Monate Haft verurteilt und per Gerichtsbeschluss als Parteichefin abgesetzt worden. Auch ihr hatte die Staatsanwaltschaft „Terrorunterstützung“ vorgeworfen.

So wählten rund 800 Delegierte auf dem Parteitag in Ankara ein neues Führungsduo: die Parlamentsabgeordnete Pervin Buldan und den Wirtschaftswissenschaftler Sezai Temelli. Bei dem Konvent präsentierte sich die HDP kämpferisch. Tausende Anhänger schwenkten Fahnen und sangen Lieder. „Wir werden gewinnen – komme, was wolle“, teilte die Partei auf Twitter mit. „Wir sind stark, voller Hoffnung und entschlossen.“

Harte Reaktion der türkischen Regierung

Der selbstbewusste Auftritt der zweitgrößten Oppositionspartei des Landes löste in kürzester Zeit eine Reaktion des türkischen Staats aus. Schon im Vorfeld hatten HDP-Vertreter über staatliche Repressalien vor dem Parteitagsgelände geklagt. Nur einen Tag nach ihrer Wahl wurde dann bekannt, dass die neue HDP-Vorsitzende Buldan jetzt auch im Fokus der Ermittler steht. Der Vorwurf klingt bekannt: „Terrorpropaganda“.

Buldan war wenige Stunden zuvor bei ihrer Parteitagsrede auf Konfrontation zur türkischen Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gegangen. „Die sollten Angst vor uns haben“, rief sie in Richtung Staatsführung. Die HDP sei die einzige Partei, die in der Türkei noch die Demokratie verteidige.

HDP gegen Kampfeinsatz in Syrien

Auch sprach sich die Parteichefin klar gegen den türkischen Militäreinsatz im nordsyrischen Afrin aus. Dort bekämpft die Türkei Einheiten der syrisch-kurdischen YPG-Miliz. Im Parlament in Ankara ist die HDP die einzige Partei, die gegen den Kriegseinsatz ist. Die formal sozialdemokratische CHP – die größte Oppositionspartei und ebenfalls eine Schwesterorganisation der SPD – hatte zwar im Januar noch auf eine diplomatische Lösung gedrängt. Ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu verteidigte den Einmarsch in Afrin später jedoch als „unausweichlich“.

Es ist nicht das erste Mal, dass die CHP auf Kuschelkurs zu Erdoğan geht – und damit zugleich auf Distanz zur HDP. In der Kurdenfrage fährt die CHP ohnehin traditionell einen harten Kurs. Wer sich für kurdische Belange stark macht, der handelt sich in der Türkei nicht erst seit Erdoğan schnell den Vorwurf der „Terrorunterstützung“ ein.

Neue Verhaftungswelle: 666 Menschen im Gefängnis

Der Vorwurf trifft nun die HDP-Chefin Buldan, aber auch unzählige andere Regierungskritiker. Seit Beginn der „Operation Olivenzweig“, wie der türkische Kampfeinsatz in Syrien offiziell heißt, sind nach Medienangaben mehr als 600 Regierungsgegner inhaftiert worden. Es ist die jüngste von unzähligen Verhaftungswellen in der Türkei, die bereits Tausende Menschen hinter Gitter gebracht haben – darunter auch den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel, der am Mittwoch vor einem Jahr inhaftiert wurde.

Ungeachtet der Massenverhaftungen will die neue HDP-Führung den Widerstand gegen die Regierung aber offenbar fortsetzen – und die Partei im kommenden Jahren in die Parlamentswahlen führen. Ob die Ko-Vorsitzende Buldan so lange in Freiheit bleiben wird, ist allerdings ungewiss.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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